Königin Lear im Schauspiel Frankfurt

Apokalypse im Business District

Aki Kaurismäki hat so etwas mal gemacht: Sein Film „Hamlet Liikemaailmassa“ (englisch: „Hamlet Goes Business“; eine deutsche Fassung existiert nicht) transponiert Shakespeares wohl berühmtestes Drama in die Wirtschaftswelt der 1980er Jahre. Der Schwarzweiß-Film formuliert Kapitalismuskritik in typischer Kaurismäki-Lakonik und ist gleichzeitig ein gelungener, erschreckend glaubhafter Wirtschaftskrimi, der sich eng an das Handlungsgerüst des Original-Dramas anlehnt. – Tom Lanoye, der sich ebenfalls bereits mit einer relativ nah am Original bleibenden zeitgenössischen Version des Hamlet Meriten erworben hat, hat nun einen Wirtschafts- und Finanzkrimi auf der Basis von König Lear entworfen. Für die Bühne, so denkt Lanoye offenbar, sind stärkere Reize erforderlich als für den Business-Film, und so reichert er den Wirtschaftskrimi mit Drogen-Junkies und Demenz-Szenen, mit einem osteuropäischen Pfleger (der natürlich das Herz auf dem rechten, sprich: sozialen und toleranten Fleck hat) und mit geradezu monströsen Wutreden der Königin Lear an. Diese Reden hat Lanoye – wie auch die meisten Dialoge – shakespearegerecht in eine rhythmische Sprache mit Blankversen gegossen, was dem Text manchmal eine ungeheure Wucht, manchmal aber auch eine unfreiwillige Komik verleiht. Das Stück wirkt etwas schablonenhaft, solange es sich auf die ökonomischen Zusammenhänge in einer komplexen Geschäftswelt konzentriert. Der apokalyptische zweite Teil steckt dagegen voller Kraft.

Tom Lanoye hat seinen Shakespeare konsequent genderverdreht: Elisabeth Lear ist eine Frau mit drei erwachsenen Söhnen. Sie ist ein weiblicher Tycoon, der über ein Imperium aus Industrie- und Finanzbeteiligungen herrscht, das sich rund um den Globus spannt und nach Regionen und nach Branchen optimal diversifiziert scheint: Da gibt es reife Märkte und Schwellenländer, Schwerindustrie und Handelsketten, Immobilien- und Finanzanlagen – und selbstverständlich operiert Lady Lear mit allen innovativen Finanzprodukten, die jemals in den (nicht immer gerechtfertigten) Ruf turbokapitalistischer Zockerinstrumente gerieten. Lear hat stets machtpolitisch konsequent und rational gehandelt, doch die Gerontologie hat mit ihrer Rationalität nicht Schritt gehalten: Alter und Tod weichen weder vor Königen noch vor Wirtschaftskapitäninnen zurück, und so sieht Elisabeth die Zeit gekommen, ihr Imperium unter ihren Söhnen aufzuteilen. Und das geschieht, wie es der gute alte Shakespeare vorgesehen hat: Entscheidend ist die Antwort auf die Frage, welcher der von Mutter Lear lebenslang vernachlässigten Söhne sie am meisten liebt. Nattern sind sie alle drei: Selbst das Alter Ego von Shakespeares gutherziger Cordelia, bei Lanoye nun Cornald geheißen, bemüht sich zwar mehr schlecht als recht um ihr idealistisches Projekt zur Armutsbekämpfung mit Hilfe von Mikrokrediten, hat aber genügend kapitalistische Gene mitbekommen, um das Ertragspotential ihres (am Ende allerdings scheiternden) Geschäftsmodells zu erkennen. Immerhin schleimt Cornald nicht lange rum – mit dem Resultat, dass er wie seine ca. 410 Jahre ältere Schwester Cordelia bei der Verteilung der königlichen Besitztümer leer ausgeht. Frau Lear die Ältere dagegen verfällt zunehmend der Demenz - mit überraschend lichten Momenten. Da sie zeit ihres Lebens außer der Sorge um das Wohlergehen ihres Wirtschaftsimperiums keinerlei Kümmerer-Qualitäten aufzuweisen hatte, findet sie außer Oleg, dem osteuropäischen Pfleger, niemanden, der ihr den Alterungsprozess erleichtert. Dem wiederum mag zuzuschreiben sein, dass die gewiefte Finanzakrobatin Elisabeth Lear völlig übersehen hat, dass eine emotional motivierte Zerschlagung eines funktionierenden Konzerns zu einem Vertrauensverlust der Anleger führt. So landet das Lear’sche Imperium in Nullkommanichts auf der Watch List der Kreditgeber und anschließend in der Kategorie der Ramsch-Investments.  

Oleg führt seine Patientin, die wie ihr königliches Vorbild bei dem alten Herrn aus Stratford bei ihren Kindern keine Aufnahme mehr findet, in die Schluchten der Großstadt – hinunter vom Finanz-Olymp in die Niederungen der Drogenwelt. Die Stürme, die nach der Konzernaufspaltung Lears Lebenswerk zu vernichten drohen, wehen ganz real in den Schluchten der Stadt. Lear wird verrückt, hat aber bei den dunklen Mächten offenbar noch genügend Einfluss, um eine menschliche und wirtschaftliche Apokalypse zu beschwören, die alles zerstört, was ihr ihn ihrem Leben wichtig war. In ihrer Wut wird Lear zu einem zutiefst menschlichen, bedauernswerten Wesen. Im Kern ist Lanoyes Finanzkrimi doch eher die Tragödie eines von der Macht nicht lassen könnenden Familienoberhaupts und Oligarchen.

Der Dortmunder Schauspiel-Intendant Kay Voges hat mit der Deutschsprachigen Erstaufführung des Stückes seine zweite Arbeit am Schauspiel Frankfurt nach der grandiosen Inszenierung von Tennessee Williams‘ Endstation Sehnsucht (siehe hier) vorgelegt. Voges ist der Mann für die Verschmelzung von Bühnen- und Filmkunst. Doch diesmal bleiben beide Bereiche voneinander getrennt. In den glatten, kalten Kubus des Bühnenbildners Daniel Roskamp zaubert der Videokünstler Robi Voigt eine kalte schwarzweiße Lichtinstallation: eine graphische, technisierte Welt, die alles Menschliche vermissen lässt. In einem Höllentempo verwandeln die weißen Neon-Lichtlinien den Bühnenkasten von einer kalten Hochhauswelt in einen Konferenzraum (eine funktionale, gefühllose Schaltzentrale der Macht), in einen endlosen Tunnel und in Straßenschluchten, durch die Paul Wallfischs Soundtrack die Stürme jagt, die Frau Lears Imperium und ihre Stadt vernichten. Wenn die Bühnenrückwand auf den Zuschauer zurast und die Spielfläche verengt, spürt der Zuschauer im Parkett die kaum noch beherrschbare Veränderungsgeschwindigkeit einer sich mehr und mehr verselbständigenden Wirtschaftswelt.

In dieser genialen, von fern an die visuellen Untermalungen der „Kraftwerk“-Songs erinnernden dystopischen Bühneninstallation behaupten sich die ebenfalls streng schwarz-weiß kostümierten Protagonisten überraschend gut. Da ist Viktor Tremmel als ältester Sohn Gregory, ein etwas naiver, verwöhnter Tanzbär, der innerlich weiß, dass er mit der Führung eines Wirtschaftsimperiums heillos überfordert wäre. Da ist Lukas Rüppels Zweitgeborener Hendrik, affig und arrogant, aber ehrgeiziger als sein Bruder. Da sind die beiden Ehefrauen Connie und Alma, von der Kostümbildnerin Mona Ulrich wie Zwillinge in schwarzweiße Kostümchen gesteckt: Connie ist bei Franziska Junge eine Zicke mit hochhackigen Pumps, so cool wie kühl; Verena Bukal gibt die hysterische Alma, die am Ende doch so etwas wie Empathie aufzubringen vermag. Und da ist Carina Zichner, die den geliebten, aber verstoßenen Sohn Cornald verkörpert: androgyn, asketisch, mit einem gehörigen Maß an unterschwelliger Aggressivität und Verstocktheit. Dieser Cornald ist keine einfühlsame shakespearische Cordelia, sondern ein knallhart seine – wenn auch sozial grundierten – Interessen verfolgender Geschäftsmann, der halt nur ein wenig aus der Art geschlagen ist.

Das Ereignis dieser Inszenierung (neben der grandiosen Video-Installation) ist jedoch das langjährige Frankfurter Ensemble-Mitglied Josefin Platt als Lear. In diesem von technischen Gimmicks dominierten Bühnenbild, inmitten dieser eher typisierten als differenziert ausgespielten Charaktere gibt Platt ihrer Figur eine geradezu monströse Entwicklung. Mühsam behauptet sie zu Beginn noch die starke Matriarchin, blind für die Realität. Doch gleichzeitig offenbart sie dem Pfleger Oleg gegenüber bereits Selbstzweifel. Großartig macht Platt den fortschreitenden Verfall durch Alter und Krankheit und den verzweifelten Kampf gegen den Verlust von Macht und Einfluss deutlich. Und dann steigt Lear in fast surreal anmutender Wut und Verzweiflung hinab vom Olymp in die Tiefen des Großstadtdschungels, und sie wird fähig zu großen Gefühlen: zur Sehnsucht nach Nähe, zu unglaublicher Wut. Grandios ist ihre Rede zu Beginn des zweiten Teils des Dramas, mit der sie die Vernichtung ihrer Welt einfordert: „Brüllt, blast und tost, Tornados! … Brecht los, Tsunamis, … Spült diese Stadt hinweg, ersäuft die Skyline!“ – Platts Lear wird zu einer Rachegöttin, einer Furie, die den eigenen Tod und den Untergang ihrer Welt fordert. Mit dem Beginn des zweiten Teils zieht Dynamik ein in die im ersten Teil ein wenig statisch wirkende Inszenierung, Paul Wallfischs Soundtrack wird treibend, hart und rhythmisch – bis dass nur noch ein leises Grummeln aus dem Maschinenraum andeutet, dass das Rattern der Maschine Wirtschaft ausgesetzt hat.

Das Stück mag sich vor allem auf den familiären Konflikt und die Tragik des Machtmenschen konzentrieren, der durch Alter, Krankheit und Starrsinn sein Vermögen und seine Familie verliert. Doch es ist auch ein Stück für die Stadt Frankfurt, für die Stadt des (angeblich) ungezügelten Kapitalismus und der Bankenzentralen, die Stadt der Sünde und der verkommenen Moral. In der Apokalypse, die jetzt über die Stadt hereinbricht, gehen alle zugrunde: die vollkommen in den Wahnsinn abgeglittene Elisabeth Lear, die als Verrückte im Ballettröckchen mit Königinnenkrone und Sonnenblume im Haar in den Tod geht, ihr treuer Berater Kent, in dem das gesamte Shakespeare’sche Gloster-Drama samt unehelichem Sohn zusammengefasst ist, und der geliebte und gescheiterte Sohn Cornald. Hammerstark ist das Frankfurter Schlussbild. Und dann: gleißendes Licht. Trauer, Tod und Teufel.