Übrigens …

Schläpfer/Jully im Staatstheater Oldenburg

Zwei Meister

Der ungarische Komponist György Kurtág beschrieb sein Orchesterstück Concertante für Kammerensemble mit solistischen Passagen für Violine und Viola als „stammelnde Zwiegespräche zwischen zwei Soloinstrumenten." Oldenburgs Chefchoreograf Antoine Jully schuf auf die dissonante Musik eine hochvirtuose Gruppenchoreografie, in der die fünf Tänzerinnen und vier Tänzer die schier unerschöpfliche Vielfalt von Dialogen, Monologen, Diskussionen und Begegnungen in der Gruppe mit jeder Faser ihrer Körper und bis in die Finger- und Zehenspitzen demonstrieren. Wie Herr(in) und Hund tun sie sich paarweise zusammen, wie Streithähne treten sie sich gegenüber, aber auch vereint als Liebende, Balgende und gleichberechtigte Partner. Wut und Übermut zeigt sich in den Minen, weit gespreizt sind die Finger oder malerisch gebogen. Hochragende, steif gestreckte schlanke Körper in enganliegenden Ganzkörpertrikots unterschiedlichster Musterung stehen neben geduckten Gestalten und raffiniert verschlungenen Figuren. Die ganze Komplexität menschlicher Kommunikation veredelt der französische Choreograf mit hochartifizieller Ästhetik. Mit berückender Ausdruckskraft und staunenswerter technischer Vielseitigkeit und Konzentration setzt die kleine Truppe Jullys anspruchsvoll eigenwillige Neoklassik um. Dass er aus der „Schule" Martin Schläpfers kommt, aber mitnichten nur Epigone ist, unterstreicht der weitere Verlauf des Abends.

Denn der mittlere Teil des Abends gehört früheren Choreografien des Schweizers, in dessen „ballettmainz" und „Ballett am Rhein" der Franzose viele Jahre tanzte und sich als Choreograf entwickelte. Angeleitet von Marlúcia do Amaral, tanzte nun Nicol Omezzolli Schläpfers Solo Ramifications von 2005 auf die gleichnamige Musik von György Ligeti ganz vorzüglich. Wer do Amaral kennt, erkannte ihre kokette, leicht selbstironische Diva-Ausstrahlung mit Genuss sofort wieder. Schläpfers Duett Quartz von 2008 - eine harsche, an Mats Ek erinnernde Paar-Episode - brachten Marié Shimada und Herick Moreira perfekt auf die Bühne.

Für einen launigen Rausschmeißer, an dem - trotz erheblicher technischer Anforderungen - Ensemble und Zuschauer ihre helle Freude hatten, sorgte Antoine Jully mit der zweiten Uraufführung dieses Programms, Begegnen ohne sich zu sehen. Die fröhliche Eleonora Fabrizi setzte als altes, buckliges Weib, das sich unter schwarzem Mantel mit ihrem Stock entlang der Rampe von rechts nach links tastet und schließlich triumphiert, setzt das Tüpfelchen auf das i dieser Nummer.

Dieser fulminante Abend hochkarätigen zeitgenössischen Balletts zeigt einmal mehr das enorme Potential mittelgroßer deutscher Bühnen, wenn aus der Direktion die nötige Unterstützung kommt. Die staunenswerte Entwicklung von Antoine Jully als Chefchoreograf in Oldenburg ist ein weiteres Beispiel - nach Bridget Breiner in Gelsenkirchen. Das Publikum zeigt sich hier wie dort offen, engagiert und begeistert.