Der eingebildete Kranke im Schaubühne Berlin

Der falsche Patient

„Ich verstehe nicht, warum das Stück Der eingebildete Kranke heißt!, sagte ein Premierenbesucher zu einem anderen und schiebt nach: „Es handelt sich hierbei doch vielmehr um einen pathologischen Irren.“ Ja, der pathologische Irre in der Inszenierung von Michael Thalheimer hat es wirklich in sich: Er kotzt, er spukt, er kackt, er jammert und zetert - das Ganze so dermaßen überzeichnet, dass einem die Lacher im Halse stecken bleiben.

Ja, es ist irgendwie keine Komödie, die Thalheimer da in einen attraktiven Schaukasten - schlachthausmäßig weiß ausgekachelt – und im Quadrat an die Decke gehängt, gebannt hat. Ein starkes Bild, das sich den Besuchern an der Berliner Schaubühne da bietet und das über 105 Minuten nicht langweilig wird (Bühne: Olaf Altmann), wenn Molières Worte wie in einem alptraumhaften Horror-Movie in den Begrenzungen des Vierecks Pingpong spielen. Denn die Worte sind hart gesetzt, springen umher, verwirren, verstören.

Da ist Argan (herrlich kränker als krank: Peter Moltzen), der sich mittels Wunderkuren, Wässerchen, Säften und Einläufen am Leben hält, denn würde er sie nicht nutzen, die Tinkturen, die die ärztliche Kunst empfiehlt, wäre er innerhalb von drei Tagen tot. Davon ist er jedenfalls überzeugt. Doch die Prozeduren kosten, weshalb er seine Tochter Angélique mit einem Arzt verheiraten will – doch das Töchterchen liebt einen anderen. Soweit, so ulkig das Gespann bei Molière, das durch die geldgierige Ehefrau Béline komplettiert wird. Jene hat es so dermaßen aufs Geld abgesehen, dass sie bei einer Intrige überführt wird: Argan gibt vor, tot zu sein; seine Ehefrau frohlockt, denn der Hypochonder Argan nervt, das Töchterchen hingegen weint bitterlich.

„Bitte, steh auf, hör auf, Dir Einläufe verpassen zu lassen und Hühnerbrühe zu löffeln und Dein Geld den Quacksalbern in den Rachen zu werfen!“, möchte man diesem elenden Argan entgegen rufen, der so absurd in sich gefangen scheint, dass das wahre Leben an ihm vorbei zieht. Blind für die Realitäten um sich herum, ist er abhängig von dem Zuspruch Dritter. Dabei scheint die Beschäftigung mit der Krankheit eine Flucht vor dem Leben zu sein, die letztlich begründet ist mit der Angst vor dem Tod. Krankheit als Religion, Leben als Bedrohung – das Ganze wird bei Molière so witzig verpackt, dass der Stoff auch 343 Jahre später als Dauerbrenner taugt. Toll ergänzt wird die Inszenierung an der Schaubühne durch die verspielt-historischen Kostüme (Michaela Barth), die mit Assoziationen aus Molières Schaffenszeit spielen und die Schauspieler ins rechte Licht rücken.

In den Rollen der Béline überzeugt Jule Böwe als narzisstische Hexe und als Angélique Alina Stiegler wie ein ADHS-Girlie mit ordentlich Power. In weiteren Rollen und ebenfalls gut: Iris Becher, Kay Bartholomäus Schulze, Felix Römer, Ulrich Hoppe, Renato Schuch und Regine Zimmermann.

Was bleibt? Der fasche Patient ist in dieser stimmigen Inszenierung von Thalheimer richtig aufgehoben; platte Witze werden ins Groteske gewendet – das Leben, es bleibt ähnlich rätselhaft wie der Tod.