Lulu - determiniert oder selbstbestimmt?
Hermann Feuchter erweist sich wieder einmal als Meister des Bühnenbaus. Für Alban Bergs Lulu stellt er ein weißes, in sechs Segmente unterteiites Metallgerüst auf die Bühne. Das wirkt auf den ersten Blick erschlagend monumental. Doch dann erschließt sich seine Konzeption: alle sechs Räume werden durch fensterlose Elemente durchsichtig. In dieser Umgebung scheint für die Titelheldin alles möglich, alle Wege offen. Doch ist das wirklich so? Dieser Frage geht Regisseurin Elisabeth Stöppler akribisch nach. Frank Wedekinds süße Lulu – kann sie ihr Leben wirklich selbst gestalten, oder wird sie fremd bestimmt?
Zu Beginn tauchen all die Männer, die in Lulus Leben an Bedeutung gewinnen werden, in der Menagerie des Tierbändigers auf, den Damon Nestor Ploumis (wie später den Athleten) tief grundiert als brutalen Egozentriker gibt. So ist die Schlange Lulu nur eine von vielen furchterregenden Kreaturen. Und Lulu schafft es auch später nur, sich zu behaupten gegen alle Figuren, die schwächer, ja verwundbarer sind als sie selbst.
Da ist der Maler, ein eitler Narzisst. Ihn zeichnet Stöppler blass. Er ist ein Mann, der sich Lulu als Fixstern in seinem Leben auserkoren hat – eine Rolle, die sie bald langweilt und sie sich weiter unruhig auf die Suche nach Erfüllung in ihrem Leben gehen lässt. Jörn Eichler entspricht der Rolle des Malers, auch wenn sein Tenor manchmal bedenklich flackert.
Alwa hat es nie gelernt, sich von seinen Vater frei zu machen. Auf Lulu projiziert er die Hoffnung, das endlich tun zu können. Lulu tritt diese Hoffnung mit Füßen, erniedrigt Alwa, indem sie ihm den Mord an seiner Mutter gesteht – und das ganz beiläufig.
Und die Geschwitz? Die liebt Lulu vorbehaltlos. Aber auch das reicht dieser nicht - und so nimmt sie Gunstbezeugungen allenfalls huldvoll hin.
Elisabeth Stöppler spürt allen Figuren intensiv nach, offenbart ihr Seelenleben. Aber was will Lulu?
Ihn – Dr. Schön. Der, der sie „gemacht“, sie geformt und in die Beziehungen hineintrieb. Er ist es, den sie zu ihrem Mittelpunkt erkoren hat. Ein Mann, der sie stets als Objekt begriffen hat. Und da ist es nur konsequent, dass nicht Jack the Ripper am Ende auftaucht, sondern Dr. Schön, der sie ein letztes Mal nimmt und dann nicht ermordet, sondern wegwirft, wie etwas das nicht mehr nützlich ist.
Beeindruckend zeichnet Bjorn Waag den Schön – hart, glaskar und herrisch. Ebenso eindrucksvoll gelingt Artjom Korotkov der Alwa. Er legt in seinen Tenor die ganze Ambivalenz des Charakters. Das gelingt auch Sayaka Shigeshima als Gräfin Geschwitz ganz hervorragend. Samtweich ertönt ihre immerwährende geduldvolle Liebe zu Lulu.
Pech hatte das Nationaltheater, denn Heike Porstein erkrankte und so sprang Marisol Montalvo kurzfristig für die Titelpartie ein. Sie beherrscht die Rolle, lässt aber dennoch Zwischentöne und eine wirklich nuancierte Rollengestaltung vermissen.
Ebenso kurzfristig übernahm Stefan Lano das Dirigat. Er führt die Staatskapelle Weimar verlässlich durch Bergs über 80 Jahre alte und doch so unglaublich junge Partitur, lässt Stimmungsfetzen fliegen, emotionale Schwingungen zwischen den Figuren hörbar werden und macht Nicht-Ausgesprochenes erfahrbar.
Ein im besten Sinne fordernder Theaterabend wird mit viel Applaus honoriert.