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Danse macabre im Theater Osnabrück

Tanz über 100 Jahre

Vor genau 100 Jahren choreografierte die legendäre Urmutter des deutschen Ausdruckstanzes, Mary Wigman, ihren Totentanz für vier Tänzer auf Camille Saint-Saëns' gleichnamiges Klavierstück. 1926 entstand Totentanz II. Die Dance Company Osnabrück rekonstruierte jetzt beide Tanzstücke. Nach Sacre (2013) ist es das zweite derartige Unterfangen, finanziell unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes „Tanzfonds Erbe." Mit Patricia Stöckemann als Projektleiterin wird Wigmans Werk in Osnabrück beispielhaft von einem Team um Henrietta Horn rekonstruiert und einstudiert, dann aktuellen Choreografien gegenüber gestellt. Jetzt stehen neben Wigmans Totentänzen Kreationen von Marco Goecke und de Candia - ein überaus eindrucksvoller Spagat über 100 Jahre freier Tanz in Deutschland nach dem rigiden „klassischen Ballett".

Seit 1910 tastete sich Wigman an einen freien Tanzstil heran. Einer der ersten Versuche war ihr Quartett auf Camille Saint-Saëns' Klavierstück. Sie selbst, Yvonne Georgi, Gret Palucca und Berthe Trümpy tanzten die vier vermummten, wie putzige Kobolde mit spitzen grauen Hüten und bunten Gewändern hüpfenden Gestalten in der revidierten Dresdener Fassung von 1921, die sehr genau musikalische Rhythmen und Akzente spiegelt. In Osnabrück alternieren die vier Tänzerinnen der Premiere mit vier Tänzern.

Im Felix-Nussbaum-Haus sind als Teil der umfangreichen Rahmenveranstaltungen zum Thema „Totentanz" auch die Grafiken zu sehen, die Ernst Ludwig Kirchner während Wigmans Proben zu ihrem Totentanz II in Dresden skizzierte. Wesentlich eindrucksvoller, weil schon wirklich expressionistischer Ausdruckstanz und mit eigens komponierter Musik für Schlagzeug, kommt diese Gruppenszene von 1926 über. Frank Lorenz traktiert die Instrumentengruppe in eigener Komposition nach Ideen von Wigmans musikalischem Begleiter Will Götze.

Der Dämon (bei der Premiere Jayson Syrette) in grünem faltenreichen Gewand, das nur das maskierte Gesicht, die Hände und die nackten Füße frei lässt, zeigt seine Macht über Menschenleben und Totenreich mit ausladender Gestik, weiten Sprüngen und Schritten. Sechs Lemuren bilden sein Gefolge. Vorn kauert eine „weibliche Gestalt" (Marine Sanchez Egasse), die um ihr Leben bangt und bettelt. Der Tod und das Mädchen ist thematisch nicht weit, stilistisch Kurt Jooss' Antikriegsballett Der Grüne Tisch.

Danach begeistert Tanz der Moderne. Mit amerikanischen Saxophonklängen und Jazzgesang untermalt Marco Goecke, Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, Supernova - ein Stück über das Verglühen eines Sterns. Wenn die Streichhölzer in den Händen der Tänzer verglimmt sind, bleibt dunkelgrauer „Qualm" - wie Puderquasten oder aufgeplusterte Pfauenfedern auf ihren Köpfen - übrig, bis der Raum völlig dunkel ist. Der fast 25 minütige „Todeskampf", der vorausgeht, zeigt ein so blitzartiges Zappeln, Flirren, Zucken, Gucken und Rucken wie es eigentlich allenfalls ein zu Tode getroffener Tausendfüßler vollführen kann.

Supernova, 2009 uraufgeführt, ist eins dieser faszinierenden, unterhaltsamen Muskel- und Gliederspielchen von Goecke, die heutige Tänzer immer wieder vor größte physische Herausforderungen stellen und ihnen schier unmenschliche Konzentration, Koordination und Präzision jeglichen Körperteilchens abverlangen - ihnen aber wie auch den Zuschauern unglaublich viel Spaß machen.

Den Abend beschließt die Uraufführung von de Candias Sacre. Dass diese Choreografie nicht schon vor vier Jahren als zeitgenössisches Pendant zu Wigmans Fassung des einstigen Skandalstücks auf dem Programm stand, lässt sich leicht damit erklären, dass weder der Italiener damals als Choreograf noch seine Kompanie tänzerisch schon so reif wie heute war. De Candias Interpretation verblüfft durch die fast völlige Abstraktion und durch die Nähe zur Musik. Aber in keinem Moment, wenn Bewegung und Musik sich doppeln oder einander gegenläufig begegnen, kommt das Gefühl auf, hier werde Musik illustriert. De Candia hat schon mehrfach, insbesondere mit der 1. Sinfonie von Johannes Brahms - Reflections, bewiesen, dass er ein besonderes Gespür für das Zusammenspiel von Klang und Bewegung hat. Mit Sacre erreicht er einen weiteren Höhepunkt seiner künstlerischen Reife.

Optisch ist diese Einstudierung von nobelster Ästhetik. Die Bewegungssprache zitiert mit größtem Feingefühl den Ausdruckstanz ebenso wie antike Marmorskulpturen und zeitgenössisches Bewegungsvokabular. In blendend weiße Ganzkörpertrikots von den Zehenspitzen bis über die Frisuren sind die Tänzer gehüllt. Posen und Gruppierungen, meist in slow motion, entsprechen dem archaischen Gehalt der russischen Frühlingslegende. Eine vornehmere Hommage an Mary Wigman ist kaum vorstellbar.