Faust im brechtbühne Augsburg

Faust in der Fuggerstadt

Goethe flitzt im roten Kabrio über den TV-Bildschirm. Der Dichterfürst hat als Cartoon-Hero in der modernen Spaßgesellschaft offensichtlich eine Mordsgaudi. Nebenan auf der großen Film-Leinwand flüstert mit feisten Grimassen durch die weiß geschminkte Maske Mephisto alias Gustav Gründgens dem biederen Gelehrten Dr. Faustus alias Will Quadflieg seine satanischen Verlockungen ins Ohr. Auf der schmalen Spielfläche davor imitieren leibhaftige Mimen die Goethe-Häppchen simultan, exakt in Deklamation und Gestik, aber in heutiger Verkleidung. Jessica Higgins (Mephisto) übersetzt zwischendrin mit ironischem Zungenschlag aus dem Englischen, was Entertainer Oscar Olivo im bunten Papageno-Gefieder mit schwarzem Pudel-Kopfputz sich zur Einstimmung des Publikums auf seine Show - quasi als alternatives „Vorspiel auf dem Theater" - mephistophelisch ausgedacht hat, viel mehr um Größeres in der Welt wissend als Herr Trump bisher (meint er). Ein Äffchen hüpft derweil an Marionettenfäden durch niedliche Wolken am Puppenspielhimmel zum elektronisch verstärkten Klang der Hammondorgel von Jens Dohle.

In Augsburg geht in knapp zwei pausenlosen Stunden Faust I als multimediale Show über die kleine „brechtbühne" und sprengt alle sicht-, fühl- und denkbaren Dimensionen eines rechtschaffenen Theaterabends deutscher Klassik. Da werden Interviews mit Schauspiel-Stars von einst - Gründgens, Quadflieg und Flickenschild - mit heiklen Fragen zur eigenen Nazi-Vergangenheit und persönlichen Eitelkeit eingespielt. Augsburger Schauspieler kontern mit Reminiszenzen aus dem eigenen, eher mühseligen Schauspieleralltag.

Gretchen (Ute Fiedler) mit aufgemotzter Frisur und im gelben Designer-Kleidchen, schwarzer Jockeykappe und Sonnenbrille, singt ihr Mariengebet „Ach neige, du Schmerzenreiche..." als „Na-na-na-na"-Popsong. Wenn's am Schluss brenzlig wird und Faust sie im Bodybuilder-Trikot wie Superman ohne Cape aus dem Kerker zu retten kommt, ist sie im hocheleganten kleinen Schwarzen - wie der Lover zuvor ganz in königsblau - zum Bleiben bereit. Man weiß, was sich schickt...

Die dralle Marthe (Klaus Müller) macht weit mehr her als der - pardon: die knallrot geschminkte, langbeinige Teufelin ohne Sexappeal (Jessica Higgins). Na ja - da komme auch einer gegen einen Gründgens an! Wer weiß, was Marlowe aufzubieten hatte. Und im übrigen - wie sprach schon aller Deutschen Dichterfürst? „Wer vieles bietet....." Auf derart vielen Ebenen wird hier atemberaubend virtuos gespielt und „performt", dass schließlich nur einer den Überblick behält: Showmaster Olivo aus USA, der - dank seines zweiten Studiums in Berlin - ebenso akzentfrei deutsch wie englisch parliert, ebenso Mann wie Frau personifiziert. Die geniale bilinguale, androgyne Jonglage mit allen Zweideutigkeiten und Doppelbödigkeiten kulminiert in seinem lustvollen Aufschrei „I am gay!"

Damit mag sich Regisseur Christian Weise allemal zufrieden geben, zumal der Dichter doch wohl (leichtsinnigerweise) selbst seinen Segen gab für jegliche Form theatralischer Gestalt seines Faust: „Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!" Weises Inszenierung in der ehrwürdigen Fuggerstadt, wo Bert Brecht und Mozarts Vater Leopold zur Welt kamen, ist ein mehr als ansehnliches heutiges, respektloses Spektakel. Dennoch: Darf man das alles wirklich machen mit dem hehren Meisterwerk deutscher Literatur schlechthin? Grenzt derlei Klamauk und „Entertainment" nicht schier an Blasphemie? Für Deutschlehrer all der Schüler, die in die Vorstellungen - mehr oder weniger freiwillig - strömen, dürfte die Diskussion eher nicht zu den gängigen Lehrstunden zählen.      

Dass alle Vorstellungen bereits vor der Premiere ausverkauft waren, ist mitnichten ein Hinweis auf die Inszenierung, sondern technisch bedingt: das Augsburger Theater wurde Mitte 2016 von heute auf morgen aus Sicherheitsgründen geschlossen und wird es wegen aufwendiger Sanierung, Restaurierung und Modernisierung mindestens bis 2023 bleiben. So mussten alle Abonnements auf die Kammerbühne mit weniger als einem Drittel der im Großen Haus zur Verfügung stehenden Plätze verteilt werden. Das Publikum trägt's offenbar gelassen und lässt sich zumindest bei der Goethe-Show die Laune nicht verderben.