Ein Kanon mit Rauchkringeln
„Eine stumme Komödie mit Musik“ sei das, was der Schweizer Regisseur Thom Luz als Uraufführung im Staatstheater Mainz angerichtet hat. Doch der Untertitel dieses zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladenen Abends ist nicht zutreffend. Am Abend zuvor, beim Besuch der Derniere von Dave St-Pierres Macbeth-Adaption am Schauspiel Frankfurt, waren handgezählte vier Sätze gefallen. Daran gemessen, wird in Mainz ziemlich viel geredet. Natürlich wird bei Thom Luz, dem Meister der skurrilen Poesie, auch viel musiziert. Und ganz nebenbei wird eine Geschichte erzählt – die Geschichte des Großen Nicola, eines Zauberers und Vaudeville-Künstlers aus Iowa, der zwischen 1900 und seinem Tod im Jahre 1946 in den USA, in Europa, Asien, Nord- und Südafrika sowie Australien und Neuseeland große Erfolge feierte und unter anderem bei der fünften Pariser Weltausstellung im Jahre 1910 auftrat. Immer wieder werden wir an diesem Theaterabend von einer Schiffsreise hören, die mit einem großen Unglück endete. Tatsächlich lief ein Schiff mit Nicola und seinem Assistenten an Bord im Jahre 1939 in der Nähe von Singapur auf eine Mine, und Nicola verlor sein gesamtes Zauber- und Bühnen-Equipment. Auch vom Großen Alexander ist die Rede, der zunächst Assistent des Großen Nicola gewesen sei und ihn später nicht nur übertroffen, sondern ihm auch die Assistentin (und Geliebte) ausgespannt habe. Der Große Alexander war ein Schwede – er erlebte die Zerstörung seiner Zauberausstattung bereits 1908 beim Brand eines Lagerhauses in Ohio. Wie weit sein Lebenslauf tatsächlich mit dem von Nicola verflochten war, vermögen wir nicht zu sagen. Richtig ist allerdings, dass der Magier der Zwölftonmusik, Karlheinz Stockhausen, in früher Jugend Pianist bei dem Zauberer Alexander Adrion war, und irgendwie war der eine bei dem anderen auch Trauzeuge. (Allerdings widersprechen sich die Quellen, wer denn nun wessen Verehelichung bezeugte.) Alexander Herrmann ist der dritte Zauber-Alexander, von dem an diesem Abend erzählt wird. Wer wer ist und von wem gerade die Rede, ist nicht immer einfach zu unterscheiden. Aber das ist vollkommen gleichgültig.
Egal ist auch, ob die Geschichten von Thom Luz der Wahrheit entsprechen. Denn auch die Zaubertricks beruhen ja auf Illusion. Und auch das Theater ist eine große Illusionsmaschine. Es arbeitet mit den gleichen Tricks wie die Zauberer. Und es hat, man staune, manchmal die gleiche Biographie wie die Magier Nicola und Alexander: Während wir auf der Bühne sitzen und in den Zuschauerraum des Mainzer Großen Hauses schauen, quert immer mal wieder eine Fremdenführerin das Theater von links nach rechts und erzählt von Bränden, in denen die Ausstattung und wesentliche Teile des Hauses verloren gingen. Manch großer Theaterdampfer drohte schon auf diese Weise unterzugehen. Und so geht es an diesem Abend nicht nur um Zauberer, sondern auch um das Theater. Thom Luz ist ein Theatermagier, dessen Stern erst vor wenigen Jahren aufging. Er verwebt die wenigen historischen Fakten oder Erzählschnipsel seiner Bühnengeschichten zu großen poetischen Kompositionen und vermag die Illusionsmaschine des Theaters mit merkwürdigen musikalischen Ritualen, bisweilen tranceartig agierenden Schauspielern und einer süchtig machenden melancholischen Grundstimmung anzuwerfen. Mehr denn je erweist sich Luz in Traurige Zauberer als der legitime Nachfolger des großen Christoph Marthaler.
Schon die Ausstattung der Traurigen Zauberer steckt voller Referenzen an die Illusionsmaschine und die Zauberkunst. Der Zuschauer sitzt auf der Bühne und blickt zunächst in den Zuschauerraum, später auf sich schließende Vorhänge. Links sehen wir eine Batterie von Toastern mit gerösteten Brotscheiben; an den Seiten sind typische Theater-Schminkspiegel angebracht. Klaviere, Keyboards und andere Tasteninstrumente sind über die Bühne verteilt; irgendwo stehen ein altmodischer Plattenspieler sowie ein knarzendes Filmabspielgerät. Ungeduldig blinzelt ein Mann durch den Vorhang, der geradezu die Inkarnation des Marthaler-Theaters ist: Graham F. Valentine. „I am the main attraction“, kündigt er sich an: Zauberer sind keine Teamworker, wie wir an diesem Abend, an dem Spiel und Musik, Pantomime und Technik so perfekt miteinander agieren, noch häufiger hören werden; Zauberer sind egoistische, aus der Welt gefallene Ich-AGs. So wie manche Schauspieler, manche Theaterschaffende.
Es sei, sagt meine Begleiterin amüsiert, wie bei uns zu Hause: Es herrsche die pure Ratlosigkeit. Denis Larisch wäscht sich die Hände, ohne dass Wasser in der Nähe ist; mit einer Nebelmaschine wird Rauch durch einen langen Feuerwehrschlauch geblasen (und wir denken wieder an die vielen Brände in der Geschichte des Theaters, von denen die Touristenführerin erzählte); Valentine, in seiner Schauspieler-Karriere wahrlich der Inbegriff des „traurigen Zauberers“, vollführt mit einer leeren Kuchenplatte dilettierende Zaubertanz-Bewegungen; Ulrike Beerbaum wird von Valentine in einen vergitterten Garderobenwagen gesperrt; Larisch bläst aus einer Trommel Rauchkringel, die Antonia Labs auf der entgegengesetzten Seite der Bühne auffängt; eine Frau soll in Trance versetzt und zum Schweben gebracht werden, was trotz reichlichen Einsatzes von Theaternebel natürlich nicht gelingt – ja, Ratlosigkeit mag man das nennen, vor allem aber ist es ein poetisches Scheitern, ein clowneskes Spiel der traurigen Magier voller leiser Komik und betörender Wehmut.
Untermalt wird das von einem großartigen Soundtrack: Der Große Nicola, heißt es einmal, sei „der erste (gewesen), der sich die große Kraft der Hintergrundmusik zunutze machte“. Die Geräuschkulisse aus Instrumentalmusik, Gesang und Beerbaums Treten gegen die Käfigstäbe harmonieren auf ohrenbetäubende Weise miteinander. Labs, die die Rauchkringel auffängt, singt im Anschluss an diese Nummer das wunderschöne Chanson, mit dem Rina Ketty in den 1930er Jahren reüssierte. Ihr „J’attendrai“ wird zum Chorstück, zu einem tollen, melodischen Kanon mit Rauchkringeln, gesungen in unzähligen Variationen. Ruhige, melancholische Kompositionen voller Poesie von Bach und Debussy, vor allem aber von Charles Ives, dem Luz schon im Jahre 2014 in seinem Archiv des Unvollständigen Kränze gewunden hatte, lullen uns ein. Wie ein Zauberer betreibe die Musik ein Spiel mit Anwesenheit und Abwesenheit, mit Verschwinden und Wiederauftauchen, Spiegelung und Verwandlung, sagt Luz: „Musik kann Räume öffnen, in denen die Zeit gekrümmt wird, anhält und nicht mehr von links nach rechts läuft, sondern in alle Richtungen gleichzeitig.“
Ein Kafka-Text (aus der nachgelassenen Erzählung Poseidon) wirkt in seiner präzisen Formulierung fast wie ein Fremdkörper in dieser Inszenierung. Doch kafkaesk geht es zu im Leben dieser eigensinnigen, aus der Welt gefallenen Zauberer. Wie bei Kafka müssen wir beileibe nicht alles verstehen, was sich an diesem Abend im Theater abspielt. Wunderschön selbstironisch ist das Schlussbild, in dem Graham Valentine, Denis Larisch, Antonia Labs und Ulrike Beerbaum sich als Zuschauer auf die Bühne setzen und gebannt das Publikum fixieren. Für sie sind wir, die Zuschauer, nun die Zauberer, die seltsame Dinge vollführen. „Also das habe ich nicht verstanden“, sagt einer der Akteure. Aber: „Die Musik war schön.“ - Thom Luz ist wieder einmal ein wunderbar versponnener Abend gelungen – und, wie die Jury des Berliner Theatertreffens in ihrer Begründung der Einladung dieser Inszenierung formulierte, eine großartige „Komposition über die Würde des Lächerlichen und den Mut zum Eigensinn“. Hinreißend.