Übrigens …

Die Gezeichneten im Staatsoper München

Boxkämpfe und Mäuse-Melken

Die vom Komponisten selbst erfundene Geschichte vom hässlichen Alviano, der im Genua des 16. Jahrhunderts das „Eiland Elysium“ als ein von seinen adeligen Freunden für Lustmorde missbrauchtes künstliches Paradies erschafft, hatte in den Inszenierungen in Frankfurt, Düsseldorf, Zürich, Stuttgart, Salzburg, Amsterdam, Los Angeles, Palermo und Lyon bewiesen, dass diese Spielvorlage der starken nachschöpferischen Interpretation durch den Regisseur bedarf.

Krzysztof Warlikowskis Inszenierung an der Münchener Staatsoper basiert auf dem Zitatenschatz aus Film und Opernbühne, greift auch gern Ergebnisse seiner Kollegen im Umgang mit Die Gezeichneten auf: die Spiegelwände von Neuenfels und Martin Kusej und der elefantöse Überkopf Alvianos bei Graham Vick sind Déjà-vues für den Schreker-kundigen Besucher. Alle Opernfreunde erkannten beim Volk als Mäuse den optischen Bezug auf Neuenfels’ Chor der Ratten und Mäuse im Bayreuther Lohengrin.

Doch der von Neuenfels in Frankfurt nachschöpferisch in Aktion umgesetzte Trivialmythos von Frankenstein läuft nun im dritten Akt, parallel zur Handlung, als Stummfilm-Projektion. Warlikowski kombiniert „Frankenstein“ Boris Karloff mit Paul Wegeners Golem, Rupert Julians Phantom der Oper und Charlotte Reinigers Nosferatu. Und im Stile von David Lynchs Twin Peaks hat Warlikowski selbst eine Missbrauchsgeschichte des jungen, malenden Mäuschens Carlotta hinzuerfunden, die während der Atelierszene des zweiten Aktes als farbig flimmernde Projektion davon ablenkt, dass die psychologische Entwicklung der Handlung zwischen den beiden vom Leben gezeichneten Charakteren als Bühnenhandlung gar nicht stattfindet.

Was ist neu an der in der in die Gegenwart verlagerten, in Malgorzata Szczesniak Einheitsraum mit Bar-Tresen angesiedelten Lesart? Vor Musikbeginn des dritten Aktes rezitiert Alviano, als ein rauchender und trinkender Conferencier, den leicht gekürzten Schreker-Aufsatz „Mein Charakterbild“ – szenisch das einzige Mal beim Schreker-Festival  1985 in Basel dargeboten. Die Gleichsetzung von Alviano und Schreker ist allerdings irreführend. Jedoch gelingt die Deklamation der aus divergierenden Kritikermeinungen gebildeten Text-Collage dem hoch gewachsenen, kraftvollen Tenor John Daszak erstaunlich. Beim Vorspiel hatte er – mit einem Sack über dem Kopf – den Bezug zu David Lynchs Elephant Man gemimt und dann auch bis Mitte der ersten Szene unter diesem Sack gesungen. In der Neuinszenierung ist Alviano ein Sex maniac, der normal gewachsene weibliche Geschöpfe in fette Sex-Monster transferiert (Kitty Kokett) und auf seinem „Eiland Elysium“ ein Dutzend unisex als Glamour Girls entkleidete Tänzer*innen auf Spitze tanzen lässt. Doch Taumel und Orgie des Volkes finden auf der Münchner Bühne nicht statt; höchstens melkt mal ein (Mäuse-)Mädchen den sie bedrängenden (Mäuse-)Jüngling, befriedigt ihn in seiner Anzughose manuell. Adorno, überzeugend verkörpert von Tomasz Konieczny, ist hier ein Boxer-Champion, der stolz den Titel „Herzog“ trägt, da er über einen eigenen Box-Ring verfügt, auf dem sich auch Alviano-Gegenspieler Tamare (Christopher Maltman) zu bewährend hat. Als Ankläger Capitano di giustizia schlüpft Adorno dann ebenfalls unter einen Mäusekopf.

Musikalisch erfolgen die ersten beiden Akte ungekürzt. Im letzten Bild, das auch optisch nichts mit einer unterirdischen Grotte gemein hat, sind die Einwürfe des Herrenchors gestrichen.

Spätestens seit der Salzburger Produktion von Die Soldaten, wo Ingo Metzmacher als Schluss eine harmlosere Rundfunk-Version Bernd Alois Zimmermanns als Finale eingesetzt hat, ist dieser Dirigent für seine „Manipulation“ von Opernschlüssen bekannt. In Die Gezeichneten streicht er die letzten Takte, in welchen die Wiederaufnahme des Sehnsuchtsthemas abrupt zum Abschluss gebracht wird. Insgesamt bemüht sich Metzmacher, Schrekers Musik das Flirrende zu nehmen, will offenbar statt der changierenden Bitonaliät eine handfeste Spätestromantik hervorkehren und die vom Komponisten bewusst gesetzten Irritationen – etwa den Gongschlag, kurz vor Ende des Vorspiels – zu nivellieren. Ein größerer Gegensatz zu Michael Gielens Frankfurter Ausdeutung des vielschichtigen Klangbilds, aber auch zu den Interpretationen von Zagrosek und Nagano, ist kaum denkbar. Das Bayerische Staatsorchester klingt wohldisponiert, der Chor und die zahlreichen kleinen Solopartien singen unter den Ganzkopfmasken beachtlich. Bei den größeren Solopartien wünschte man sich mehr Präzision in Rhythmus und Text, insbesondere bei Catherine Naglestad als Carlotta.

Am Ende viel Applaus für die musikalische Seite der Aufführung, durchsetzte Ablehnung für die szenische Fraktion. Tatsächlich verblieben jene Besucher, die diese Oper(nhandlung) nicht gut kennen, ratlos.

Die nächste Realisierung dieser Oper, in der kommenden Spielzeit an der Komischen Oper Berlin durch Calixto Bieito, wird dann wohl die Orgie nicht aussparen…