Übrigens …

Carmen im Bregenz

In den Händen der Ausstatterin als Carmen

Kasper Holtens Carmen-Inszenierung ist so einfach, wie schlüssig. Wie in seinem berühmten Kopenhagener Ring ist es auch hier die familiengeschichtliche Entwicklung, die den Regisseur interessiert. Bereits die kleine, elternlose Carmen ist eine Außenseiterin und Draufgängerin, sie schon liebt die Karten und weiß sich mit Gewalt oder auch durch einen überraschenden Kuss gegen die älteren Jungs in ihrer Umgebung durchzusetzen. Das zeigt Holten im Vorspiel. Carmens Legen der Todeskarte im dritten Akt wird hier zum dramatisch tiefgehendsten Moment dieser Inszenierung, und das Kartenspiel bestimmt auch die Bühnenarchitektonik der in Stadien für Shows wie im Theater gleichermaßen gefragten Ausstatterin Es Devlin. Ihre Arme und Hände waren Vorlage für die 18 und 21 Meter hohen, sich aus dem Wasser reckenden Frauenarme, mit den zwischen ihnen scheinbar in der Luft schwebenden, wie auch den Boden der Spielfläche auf dem See bedeckenden Karten. Diese können per Projektion ihre Werte ändern, auf ihnen sind auch Ansichten aus dem alten Sevilla, Torreador-Darstellungen, vorproduzierte Videos, wie auch Live-Ausschnitte zu sehen. In der Schluchtsituation des 3. Aktes singt Micaéla (Mélissa Petits) hinter dem Daumen der linken Hand und Stunts seilen sich aus höchster Höhe von den Karten ab. Die Topik des Ortes ist deutlich bestimmt vom Element Wasser: das spritzt in den Tänzen, ein Double der Carmen flieht kraulend durchs Wasser des Bodensees, künstliche Regengüsse prasseln im 2. Akt herab, und Don Josés und Carmens letzte Begegnung findet im Wasser statt, wo der eifersüchtige Liebhaber sie konsequent nicht ersticht sondern folgerichtig im Wasser erstickt.
Die Premiere im Juli war verregnet, so dass darin sicher nicht auszumachen war, dass eine Szene der Oper selbst mit künstlichen, heftigen Regengüssen inszeniert ist, der erste Auftritt des Toreadors. 
Überaus differenziert gesungen wird von der Mezzosopranistin Lena Belkina in der Titelrolle, wie auch von Martin Muchle als Don José. Neben Chören und Orchester sind es vor allem diese beiden Protagonisten der dreifach besetzten Produktion, die bei der viertletzten Aufführung zum Erlebnis wurden. Grundlage für den auf knapp zwei Stunden verkürzten Musiktheater-Abend mit extremem Show-Wert bildet Bizets Urfassung mit den hier aufs nötigste verkürzten, gesprochenen Dialogen und einigen musikalischen Strichen.
Die auf dem Wasser agierenden und singenden sowie die auf der Festspielhaus-Bühne nur singenden Chöre und Kinderchöre mischen sich akustisch perfekt mit den mikroportverstärkten Stimmen auf der Seebühne und werden von innen auch optisch nach draußen auf große Screens übertragen. Die Kamerabilder der Live-Tonerzeugung zeigen in einer TV-gerecht aufbereiteten Übertragung Detailaspekte des Spiels der Wiener Symphoniker und den stets seine Begeisterung vermittelnden Dirigenten Jordan de Souza.
Eine an den letzten Festspieltagen bereits zum Verkauf angebotene DVD, als geschickter Schnitt der Orchesterhauptprobe und zweiter Aufführungen (mit Gaelle Arquez Daniel Johannsson und Scott Hendricks in den Hauptpartien, musikalisch geleitet von Paolo Carigiani, C-Major742208) , hält diese ungewöhnliche Liaison von exzellent musizierter Oper und Pop-Show fest; sie macht im Betrachter Lust, die Atmosphäre auf dem Bodensee (erneut) selbst zu erlaben – und das sogar, wenn es wieder einmal in Strömen regnen sollte.