Neben der Dramaturgie des Bodensees setzt Intendantin Elisabeth Sobotka im Festspielhaus die Pflege unbekannter neuer Opern fort. Im Vorjahr kam Otto M. Zykans 40 Jahre altes Skandalon Staatsoperette erstmals auf der Bühne, und nun gab es in der Werkstatt, vier Tage vor Ende der Festspiele, eine weitere ungewöhnliche Opernuraufführung.
Virginia Woolf für die Bühne zu dramatisieren, ist ein überaus schwieriges Unterfangen. Den Theaterbesucher begegnet Woolf nur als Erwähnung und titelgebende Wortspielerei bei Edward Albee (Who’s Afraid of Virginia Woolf – Wer hat Angst vor Virginia Woolf).
Doch nachdem Woolf nicht nur durch identische Jahres-Lebensdaten sondern auch vom strukturellen Ansatz her James Joyce vielfältig verwandt ist und Joyce auch wiederholt (von Rihm bis Zender) vertont wurde, schien es Ernst Binder, dem kürzlich verstorbenen Regisseur und Autor, denkbar, einen Roman von Woolf fürs Musiktheater zu adaptieren. In To the Lighthouse wird, ähnlich wie bei Joyce, ein kurzer Moment zum Roman: der von seinem Vater abschlägig beschiedene Wunsch des jungen James Ramsay, auf der Isle of Sky zum Leuchtturm zu wandern, entfaltet sich als das mehr als ein Jahrzehnt überspannende Konstrukt.
In mehr als drei Jahren wurde das Projekt vom Opernatelier der Bregenzer Festspieleerarbeitet von dessen Leiter Ernst Binder, der selbst das nur zwölfseitige Libretto verfasste, im Team mit dem 1984 geborenen griechischen Komponisten Zesses Seglias, dem dänischen bildenden KünstlerJakob Kolding und dem Dramaturgen Olaf A. Schmitt.
Die nicht lineare oder causative Text-Collage schafft eine Dramaturgie von Bewusstseinsströmen, die aus dem Unterbewusstsein oder aus dem Unbewusstsein hervorbrechen. So liegt es nahe, dass der hier erstmals fürs Theater arbeitende Jakob Kolding auf die sich im dritten Teil der Oper die Bühne ein in seinen Konturen ausgeschnittenes Foto von Sigmund Freud in den Mittelpunkt rückt.
Eine überaus umfangreiche Szenenangabe wird zu Beginn der Oper über dem komplett verdunkelten Orchester in schnellen Satzfolgen dem Publikum in deutscher und englischer Sprache zu lesen gegeben, gefolgt von einer Textcollage weiterer Woolf-Zitate als „Grundstimmung“ (Bender). Dann erst werden die solistischen Musiker des Symphonieorchester Vorarlberg und die engagierte, pointiert dirigierende Claire Levacher beleuchtet: die Handlung beginnt, und auf die leere Bühne werden schwarz-weiß ausgeschnittene Fotos, außer einem Baum bevorzugt Detailaufnahmen, positioniert. Auch Requisiten, ein Papierschiff des Knaben, die Pfeife des Shakespeare-Liebhabers, ein Buch mit Tennysons Poems, sind nur ausgeschnittene Fotos. Andersens Kostüme passen zu den alten Bildern, sie sind antiquierend in Sepiatönen gehalten.
Der erste Akt der kaum mehr Handlung zu nennenden Spielvorlage ist im Jahr 1910 angesiedelt, der zweite drängt das Dezennium 1910-1920 zusammen, der dritte Teil spielt an einem Nachmittag des Jahres 1920 auf der schottischen Isle of Sky. Im ersten wird der Wunsch des Knaben auf 50 Minuten ausgedehnt, in den zweiten ist die Zeit des Umbruchs rund um den Ersten Weltkrieg, der verlorene Glaube an Autoritäten zusammengefasst, im dritten Teil unternimmt James als 16 jähriger - nun mit Gesangspart - dann tatsächlich die so lange aufgeschobene Wanderung zum Leuchtturm.
Komponist Zesses Seglias gibt als Vorbilder für seine ausgefallene Stimmbehandlung Salvatore Sciarrino, Luciano Berio, Beat Furrer, Demetrio Statos, Diamanda Galas, Tom Waits und Nick Cave an. Deutlicher erscheint Helmut Lachenmann als Vorbild in der Behandlung der Instrumente als Material und deren Bespielen auf ungewöhnliche Weise und an ungewöhnlichen Stellen ihres Corpus. So lässt auch Seglias Flöten und Saxophone leer blasen, der Elektrogitarrist zupft auf der Höhe der Wirbel seines Instruments, während er die Spannung der e-Seite permanent verstellt, der Kontrabassist streicht am Holz des Steges. So entsteht eine Naturgeräuschen ähnliche Stimmung, mit lang gehaltenen Halbtonabständen und Flageolett der Violinen sowie atmosphärisch am Rand gestrichenen Becken.Die gestopfte Posaune und die Trompete imitieren wiederholt die Singstimmen, dazu ertönen Akzente von Klavier und zwei Schlagzeugern. Die drei Abschnitte und deren Untergliederungen sind deutlich gekennzeichnet. Wirbel auf der großen Trommel beenden den ersten, Pianissimo-Schläge der Pauke den zweiten Teil.
Der Gesang ist reduziert auf Silben, die „Ganz weit hinten im Mund“ erzeugt werden sollen, „wie sanftes Murmeln“. Mikroportverstärkt ertönt so eine Polyphonie der Gedanken als eine Vermischung von gesprochener Sprache, Bewusstsein und Unterbewusstsein.
Olivier Tambosi, der im Vorjahr bei den Bregenzer Festspielen Franco Faccios Hamlet inszeniert hatte, hat die Regie für den verstorbenen Kollegen übernommen. In Benders Sinne minimalisiert er die Aktionen. Am eindrucksvollsten gerät die ironisch eingefrorene halbgedrehte Rückwendung des dominanten Vaters und Ehemanns Mr. Ramsay (Jean-Marc Salzmann).
Dessen Gattin Mrs. Ramsay (Christie Finn) summt jeweils am Ende ihrer Sätze nach, was wie eine Psychose der unterdrückten Gattin und Mutter wirkt. Am Ende schreitet die tote Mrs. Ramsay über die Szene und zitiert dabei jene Verse Shakespeares, die der sie insgeheimliebende Augustus Carmichael (Adrian Clarke)am Anfang des Abends rezitiert hatte und bezieht nun das, was verstohlen an sie gerichtet war, direkt auf sich, macht es zu ihrer Wesensart.
Nach einer eingespielten Erzählerstimme gehört der zweite Teil der Oper, inmitten der sich häufenden Ansammlung von Ereignisfotos aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, allein der gebeugten Haushälterin. Als Mrs. McNab röchelt und grunzt Dalia Schaechter zur vorproduzierten Aufnahme ihrer Stimme, mit heftigem mikroverstärktem Atmen.
Lily Briscoe (auch stimmlich beeindruckend: Sophia Burgos) rückt vier Puzzle-Teile ihrer selbst zurecht, welche jedoch kein einheitliches Bild der Chronistin zu ergeben vermögen. Eine Kettenreihung der Worte „It's bad!" bilden ihren Kommentar. Im dritten Teil formuliert sie, wohl auch stellvertretend für Andere, „I have had my vision“.
Im dritten Teil tritt der zum Jüngling gereifte James Ramsay (Alexander York) über die Rampe ins Orchester. Der Bariton bringt seinen Hass auf den Vater, angesichts von dessen Verbot, den Leuchtturm aufzusuchen, über drei Oktaven letztmals ausdrucksstark zur Geltung.
Neu an dieser Uraufführungsproduktion war auch, dass die Entstehung dieser Oper einem Publikum in sieben Schritten als gemeinsam mit dem Kunsthaus Bregenz realisierte „Einblicke“ vermittelt wurde - einem Publikum also, welches bestenfalls partiell identisch ist mit dem Festspielpublikum bei einer zeitgenössischen Produktion auf der Werkstatt-Bühne des Festspielhauses.
Um 21:18 Uhr, nach eineinviertelstündiger, pausenloser Aufführung, ist die aktionsarme, klangreiche Präsentation in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln zu Ende. Das Publikum, mehr erschöpft als mitgenommen, applaudiert ohne jeden Widerspruch, regional bereits durch die „Einblicke“ kontinuierlich in die Nicht-Handlung eingeführt.