Übrigens …

Tipping Point im Haus der Berliner Festspiele

Foucaults Pendel

Die Schwelle zwischen Circusarena und Theaterbühne schwindet. Zum dritten Mal veranstalten die Berliner Festspiele einen zeitgenössischen Circus. Die Programmreihe versteht sich als „künstlerische Bühnenform“ theatraler Formate, „denen ein dramaturgisches und ästhetisches Gesamtkonzept zugrunde liegt“

Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, versteht „die Entwicklung des zeitgenössischen Circus“ als eine „Reaktion auf die Konventionen des eigenen Mediums und zugleich den Versuch, modernes Theater zu machen ohne ‚Theater‘.“

Nach Nebula und All Genius All Idiot gastiert Tipping Point der Gruppe Ockham’s Razor auf der Bühne des Festspielhauses, im Karree von Publikumstribünen umgeben. Als Auftragsarbeit des London International Mime Festivals zeigen die Performer*innen Nich Galzin Alex Harvey, Emily Nicholl, Telma Pinto und Steve Ryan eine gut einstündige, pausenlose Show mit theatralischen Elementen. Zu Beginn wird durch Kalk aus einer geschulterten Röhre ein perfekter Kreis auf den Boden gezogen. In der so entstandenen Arena klettern, laufen, schweben die Performer*innen zunächst auf von ihren Kolleg*innen gehaltenen, aber permanent bewegten Stangen. Dann wird ein zentrales Pendel aufgehängt, welches später, erneut frei schwebend, an einer hängenden Zentralachse befestigt wird, so dass auf der Stange als einem waagerechten Pendel sich zwei Darsteller in rasantem Kreis drehen können. Verblüffend, wie die Darsteller*innen an solche Stangen geworfen werden, scheinbar haften bleiben oder rasant zu Boden stürzen, rutschen, ohne sich den Kopf aufzuschlagen, da sie im allerletzten Moment abbremsen. Oder wie sie blind, nur den Anweisungen ihrer Mitspieler folgend, sich durch fünf von der Decke des Ricks bis zum Boden hängende, gegenläufig schwingende Stangen bewegen, ohne sich zu verletzen. Die Dramaturgie ist jene der stringenten Steigerung bei einer akrobatischen Darbietung im klassischen Zirkus, aber die sprechenden Blicke, Gesten, nonverbalen Interaktionen der Performer*innen stammen vom Theater. Dabei ist neben der dem artistischen Können, dem Vertrauen der voll durchtrainierten Akteure insbesondere der in minutiöser Probenarbeit erzielte reibungslose Ablauf auf klassisch orientierte Musikeinspielungen von Adem Ilhan und Quinta zu bewundern. Am Ende steht ein Bild des erneut hängenden Foucaultschen Pendels, aus dem Kalk zu Boden rinnt und das in nicht enden wollendem Kreisen ein allein schon ästhetisch faszinierendes Bild auf den schwarzen Bühnenboden malt, eine sich ergänzende Folge von Ellipsen.

Das Publikum, darunter erstaunlich viele junge Besucher (denn der Abend war ab sechs Jahren freigegeben) waren begeistert und überschütteten die Mitglieder der 2004 gegründeten britische Kompanie mit heftigem Applaus.