Theater am Rand des Massengrabs
In Zeiten, in denen aus kotigen Winkeln neuerlich Antisemitismus aufkeimt, gewinnt Sobols 1984 uraufgeführtes, von jiddischen Liedern und Jazz durchzogenes Stück über das Ensemble des Ghettotheaters im litauischen Wilna beklemmende Aktualität.
Weder meint der Stücktitel die jüdischen Quartiere des Mittelalters und der frühen Neuzeit noch das osteuropäische Shtetl. Vielmehr nimmt Sobol die Bezeichnung des nationalsozialistischen Terrorregimes für Durchgangsstationen in Richtung Vernichtungslager auf. Mit dem traditionsreichen - selbstbestimmten - geistigen Leben des Judentums im „Jerusalem des Nordens“, wie die litauische Hauptstadt auch genannt wurde, hat der Begriff aus der faschistischen Schandterminologie daher rein gar nichts zu schaffen.
Der Koblenzer Hausherr Markus Dietze inszeniert geradezu altmeisterlich am Text entlang. Scharf präpariert Dietze gesellschaftliche Strukturen einer versklavt-zusammengepferchten Notgemeinschaft, ihre Mentalitäten und Überlebenstechniken wie auf der Gegenseite die Psyche ihres Peinigers, des unberechenbaren SS-Kommandanten Kittel heraus. Den Weg der Schauspielerin und Diseuse Chaja von der künstlerischen Favoritin des Ghettokommandanten Kittel bis in Flucht und Widerstand zeichnet Dietze teilnehmend. Die nicht auf das Überleben Einzelner, sondern auf die Erhaltung des Judentums gerichtete Unbedingtheit des Wilnaer Ghettoratsvorsitzenden Gens, der sich nicht scheut, für das abstrakte Ziel Menschenleben zu opfern, gerät ins Zwielicht. Die souveräne Gelassenheit des Bibliotheksleiters Kruk, der sich ohne heroische Pose todverachtend jeder Kooperation mit der braunen Bande verweigert und zu den Organisatoren der Untergrundarbeit im Ghetto zählt, gewinnt stille Größe. Der Gefahr, dass eine Figur wie der opportunistische Textilfabrikant Weiskopf, der die Lage im Ghetto und damit seine eigene Situation aus den Augen verliert, um sich an der Dynamik seines aufstrebenden Unternehmens zu berauschen, zur Karikatur missrät, entrinnt Dietze. Neronisch bis ins Mark ergötzt sich SS-Scherge Bruno Kittel am Mord als Klimax seiner kunstsinnig dilettierenden Kennerattitüde.
Christian Binz baut eine praktikable Bühne aus einer Empore, zu der vier schmale Treppen führen. Die Zwischenräume werden benutzt, um bestuhlte Podeste für das Parkett des Ghettotheaters hineinzufahren. Die Drehbühne zeigt die Rückseite der Gerüstkonstruktion als Ghettobibliothek. Die Kostüme belässt Binz in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Dietze setzt auf Schauspieler-Theater. Das vielköpfige Ensemble kann diesen Anspruch weitgehend einlösen. Julia Steingaß verleiht Chaja jene Professionalität, aus der die Kraft zur Erhaltung des Wesenskerns wächst. Musikalisch zeigt sich Steingaß gleichermaßen im jiddischen Lied wie in der Gershwin-Nummer zuhause. Jona Mues als Ghetto-Kommandant Kittel paart Kunstversessenheit mit Mordlust. Das Ghettotheater ist sein Spielzeug, das er zertritt, sobald sich der Reiz des Neuen verbraucht hat. Hinreißend haucht Raphaela Crossey in Spiel und Diktion des Bauchredners und Theaterleiters Srulik frecher Puppe Lina Leben ein. Reinhard Riecke als Vorsitzender des Wilnaer Judenrates Gens, Markus Kirschbaum als Bibliothekar Kruk und David Prosenc als Textilunternehmer Weiskopf agieren wie alle weiteren Akteure rollendeckend.
Die Combo unter Leitung von Ralf Schurbohm misst versiert die Spannbreite von Klezmer bis Jazz aus.
Betroffen herzlicher Applaus für alle Beteiligten.