Vorhölle
Für Bürger der Zivilgesellschaft gelten politische Gefangene als besonders edle Spezies von Inhaftierten, hingegen in der Hierarchie des russischen Lagerlebens, das Janáceks letzte Oper schildert, rangieren sie ganz unten. Sie sind Freiwild nicht allein der Lagerleitung, selbst die Mithäftlinge setzen ihnen mitleidlos zu. Das bekommt auch Alexandr Petrovic Gorjancikov zu fühlen. David Hermann konkretisiert die Art seines politischen Vergehens, indem er ihn als einen verfolgten Journalisten zeichnet, der während des Orchestervorspiels in seiner Redaktion von Polizei überfallen und arretiert wird. Angesichts des schwierigen Standes der Presse etwa unter dem Erdogan-Regime kein abwegiger Gedanke. Hermanns Sichtweise rückt dabei Gorjancikov stärker in den Fokus als dem Stück zuträglich ist. Die nüchterne Sicht auf das Lagerleben, die gerade deshalb ins Gemüt dringt, weil sich mit ihr zwar Empathie aber keine Wertung der Figuren verbindet, gerät dabei aus dem Gleichgewicht. So mutiert, weil Hermann die Folterung Gorjancikovs auf die offene Bühne verlegt, ein gewöhnlicher Mörder wie Luka Kuzmic zum Medizinalsadisten, der den auf einem Operationstisch fixierten politischen Häftling ohne Narkose chirurgisch malträtiert und wieder zusammenflickt. Die Feiertagsstimmung des zweiten Aktes fängt Hermann offenbar nur deshalb amüsant slapstickmäßig ein, um Gorjancikovs Leiden kurz zu unterbrechen. Denn bald darauf sperren die Mithäftlinge den „Politischen“ in einen Glaskasten, von dem aus er seine neuerliche Verhöhnung ertragen und die Vergewaltigung seiner mit ihm inhaftierten Kollegin und Lebensgefährtin mit ansehen muss. Kein Zweifel, Hermann findet zu szenisch packenden Lösungen, wenn auch vieles sich bei näherer Betrachtung als recht frei assoziiert erweist. Das gilt auch für Siskov, der bei Hermann vom Mord an seiner Frau leichthin und beinahe charmant wie in luzidem Wahnsinn erzählt.
Die große Drehbühne der Frankfurter Oper setzt Johannes Schütz ausgiebig in Bewegung. Schütz errichtet darauf schmale Stellwände, die verschiedene Schauplätze andeuten sollen, etwa die Zeitungsredaktion, den Lagerzaun oder die als Lazarett getarnte Folterkammer. Dennoch muten die Bildlösungen weniger minimalistisch oder abstrahierend als im Letzten zu unspezifisch an.
Die Kostüme von Michaela Barth rücken das Lagerleben an die Gegenwart heran. Die vielfach geflickte jeansblaue Häftlingskleidung mit ihren großen Flicken stößt - wie sie soll - durch ihre Hässlichkeit ab.
Angeleitet von Tilman Michael tönen die Herren des Chors der Oper Frankfurt versiert, präzise, homogen, dabei aber seltsam unbeteiligt. Was Außenstehenden als markante Äußerungen des Lagerlebens erscheint, offenbart sich jenseits von Sadismus und Festivitäten auch vokal als unerheblich für die immer gleiche Grundstruktur des Häftlingsdaseins.
Tito Ceccherini raut mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester das Klangbild je nach situativer Erfordernis auf, schärft es bis auf Messers Schneide, spitzt es zu. Die einzelnen Instrumentengruppen leisten Atemberaubendes, stellvertretend seien tiefe Streicher und Holzbläser genannt. Janaceks Idiom dringt durch, ohne - außer am Festtag - dessen Slawismen sonderlich zu akzentuieren. Das Existentielle überwiegt das Nationale.
Das vielköpfige Herrenensemble wächst aus der Häftlingsmasse. Gordon Bintner portraitiert den politischen Häftling Gorjancikov mit schlankem Bariton. Vincent Wolfsteiner leiht Kuzmic seinen bei aller Zurückhaltung unverkennbar im Heldenfach beheimateten Tenor. Johannes Martin Kränzle beflügelt Siskovs mörderische Eifersuchtsgeschichte zur schwebenden Leichtigkeit des Seins. Peter Marsh skizziert Sapkin mit charaktertenoraler Eindringlichkeit. In der Hosenrolle des Aljeja sorgt Karen Vuong für jugendlichen Schwung, der das Leben im Totenhaus nicht gänzlich hoffnungslos erscheinen lässt.