Emilia Galotti im Schauspiel Frankfurt

Freiheit zum Tode

 Nach dem Warnstreik im Öffentlichen Dienst geht Lessings Trauerspiel um einen Tag verspätet in Szene. David Bösch scheint das inflationär wider den Strich gedeutete Stück schlankweg und geradeaus zu erzählen, beinahe unmerklich nimmt er dennoch  wichtige Verschiebungen vor. Das beginnt beim Prinzen, in dem kein jugendlicher Potentat begegnet, vielmehr ein Mann in mittleren Jahren. Bleich, langhaarig, bärtig, eine goldene Zackenkrone auf dem Haupt, kommt er gleich manchem Gott und mythischem König auf Gemälden des 18. Jahrhunderts daher. Es scheinen Mächte am Werk, die nicht einfach von einem Dutzend-Tyrannen auf der Suche nach einer neuen Maitresse handeln. Offenbar  wirken Kräfte in den Figuren, auf die sich individuell kaum zugreifen lässt. Wie einst im griechischen Mythos der Ananke scheinen sie einem unheilvollen Verhängnis eingeschrieben, genauer der religiösen Determination im Zeichen des Kreuzes, das auf der Bühne immer wieder geschlagen wird. Emilia sucht sich durch Gottesdienstbesuch und Gebetbuch in Züchten gegen unbestimmt in der Luft hängende Drohungen zu wappnen, eben deshalb bietet ihre Frömmigkeit den frei schweifenden Begehren des Prinzen Schlüsselreiz und Ziel. Weil Religion und Staat nicht schützen, nur verführen und zwingen, sucht die Titelfigur Freiheit im Tod. Sich entleibend sprengt Emilia die Ketten des Verhängnisses. Keine Tugendheroine nach altrömischem Vorbild kreiert sich da, vielmehr und bedeutender eine junge Frau, die auf Autonomie pocht.

Hebt Bösch zunächst noch den komödiantischen Anteil des Trauerspiels hervor, so verliert sich dieser im Verlauf des zweistündigen pausenlos durchgespielten Abends nahezu vollständig. Freilich verflüchtigen sich mit den Einschlägen von Heiterkeit oft auch Präzision und Tiefenschärfe in der Figurenzeichnung, an deren Stelle bloße Postulate treten. 

Patrick Bannwart öffnet die Hauptbühne vollständig. Nach hinten schließt den weiten Spielraum eine kolossale graue Rückwand ab, vor die Bannwart ein Riesenkreuz in gleicher Farbe und Monumentalität stellt. Höfische Atmosphäre erzeugen sechs Kronleuchter, deren Glanz vereinzelt aus dem Schnürboden hängende Lamettastreifen reflektieren. Familie Galotti bewohnt ein Haus, dessen Spießersilhouette und Tapetenmüsterchen bereits für sich sprechen. An der Wand dominiert und dräut ein Miniaturkreuz samt passendem Weihwasserbecken gerade durch sein Kleinformat.

Die Titelfigur wird von Meentje Nielsen zunächst in ein sittsam, fromm und pensionatsgänschenhaftes schwarzes Kleid gesteckt, später trägt sie ein kaum weniger keusches weißes mit winzigen Rosen besetztes. Der dunkelviolette Samtanzug des Prinzen lässt an einen Edel-Bohèmien denken. Marinelli geht kostümlich als Halbweltmann durch.

Das Ensemble zeichnet sich durch sprachliche Sensibilität und Sprechkultur aus. Sarah Grunert in der Titelrolle vereinbart fragile Erscheinung mit der erstaunlichen Kraft und Festigkeit  stimmlicher Statur. So unbeirrt, wie ihre Emilia anfänglich im Glauben steht, so entschlossen behauptet sie final ihre persönliche Freiheit. Der Herzog von Isaak Dentler regiert und liebt ohne sonderliche Emphase. Ob er Todesurteile unterzeichnet, Intrigen spinnen lässt oder sich an Frauen bedient, es geschieht auf affektiver Sparflamme. Fridolin Sandmeyers Marinelli ist ein Technokrat, dem der Halbwelt-Habitus eine Individualität verleihen soll, die er nicht besitzt. Katharina Bachs Orsina meidet jede Hysterie, sondern gibt die menschlich gewinnende seit jüngstem arbeitslose hochprofessionelle Maitresse. Sebastian Kuschmann als Odordo und Olivia Grigoli als Claudia Galotti zeichnen unaufdringlich-konventionelle Rollenbilder. Der Appiani von Wolfgang Vogler verkörpert einen Ausbund an Loyalität und Lauterkeit gegenüber seinem Fürsten wie auch der Braut. Schönstimmig geht er an seiner doppelten Treue zugrunde.

P.S. Wer sich nach Frankfurt ins Theater aufmacht, sollte nicht versäumen, vor  der Aufführung die Ausstellung >Große Oper-Viel Theater?< im Deutschen Architekturmuseum zu besuchen. Hier werden im Kontext der örtlichen Debatte um Sanierung oder Neubau der Städtischen Bühnen die Geschichte der Frankfurter Theaterbauten und internationale Theaterneubauprojekte seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vom Londoner National-Theatre bis zum Linzer Opernhaus präsentiert. Obwohl Faustskizzen, Architekturzeichnungen und Modelle wünschenswert gewesen wären, ergibt sich ein informativer Überblick. Ausstellungsbesucher plädieren an einer Zettelwand dafür, Oper und Schauspiel in jedem Fall mitten in der Innenstadt zu belassen und das Areal, auf dem sie sich gegenwärtig befinden, keinesfalls Immobilienhaien preiszugeben. Die Ausstellung läuft noch bis zum 21. Mai.