Drache, Gold und Kannibalen
Das Mainzer Staatstheater wird zum Riesenheim. Einer der übergroßen Gesellen beobachtet von der Dachterrasse aus, wie Ensemblemitglieder den Theaterplatz nutzen, um ihr Publikum für den dreieinhalbstündigen Abend zu gewinnen. Ein weiterer Hüne wartet auf der Bühne, wo sich zu seinen Füßen der deutsche Erzmythos gleichzeitig unheilvoll zuträgt und häufig der Lächerlichkeit preisgibt.
Hebbels Nibelungendrama, dessen Original den Sagenstoff über weite Strecken einem stark der Mitte des 19. Jahrhunderts verhafteten Historienschinken annähert, erfährt in der Mainzer Version des Trauerspiels nicht allein durch Riesen und allerlei sonstigen Schabernack die dringend nötige Frischluftzufuhr. Das Hebbelsche Trauerspiel mischen ferner Texte von Heiner Müller auf. Zutaten, die Regisseur Jan-Christoph Gockel und seinem Dramaturgen Jörg Vorhaben es ermöglichen, die Monumentaltragödie für die Gegenwart zu retten. Das geschieht ohne tiefere Eingriffe in die packenden Dialoge seiner Schlüsselszenen oder die poetischen Passagen. Gockel spielt im Gegenteil die originalen Hebbel-Anteile voll aus. Da darf in einem der beiden nebeneinander gestellten Brautgemächer des Drachentöters und Kriemhilds Lust toben, während nebenan Brunhild dem Gemahl Saures gibt. Dann aber wechselt Siegfried ins Bett der Königin aus Isenland, um diese an Stelle des Gemahls zu notzüchtigen. Wie nach vollbrachter Tat die auf dem Brautlager im Stich gelassene Kriemhild dem Geheimnis des Schwägerinnen-Gürtels auf die Spur kommt, wie sich wenig später der aufgestaute Konflikt im Geifern und Giften der beiden Königinnen um den Vortritt ins Münster entlädt, das raubt den Atem und erzeugt Beklemmung. Im Zentrum des Abends freilich decouvriert sich König Gunther in seiner popanzhaften Eitelkeit, Schwäche und Lächerlichkeit auf beinahe sympathische Weise, die genossen werden darf, weil sie den degenerierten Epigonen ins Aus für sich und seine Sippe führt.
Während Riesen samt bei Hebbel nicht vorhandenen androgynen Nornen mit den Köpfen männlicher Greise, Hängebusen und weiblicher Schamgegend die Tragödie zugleich ernstlich und ironisch remythisieren, brechen Puppenspiel-Passagen und feuerspeiende Miniaturdrachen den Stoff auf sein zu jeglicher Art von Popularisierung taugliches Handlungsgerippe herunter.
Des Abends zweiter Teil verliert an Intensität. Wenn Kriemhild ihr Rachewerk vollzieht, dann verbackt das allbekannte Schlachten und Blutsaufen zum amorph-kannibalistischen Klumpen. Auch, weil der beinahe auf seine bloß physische Anwesenheit reduzierte Etzel keine Gelegenheit erhält, den Versuch zu unternehmen, sich gegen das Unheil zu stemmen.
Julia Kurzweg stellt in den schwarz abgehängten leeren Bühnenraum zwei portalhohe hölzerne Riesenbeine, die final in die Knie gehen, um sich in die eingestürzten Pfeiler des ruinierten Nibelungenquartiers auf der Etzelburg zu verwandeln. Zuvor mutiert der Wagen für Volkers mobile Puppenbühne zu Gunthers Brautgemach.
Die Kostüme von Sophie du Vinage treiben Klischees auf die Spitze und damit ins Absurde. Gunther schreitet permanent bekrönt und meist im Pelz seiner Wege. Siegfried pirscht pseudogermanisch im Fellschurz durch den Forst. Brunhild entspricht in Brünne und mit weit ausgestelltem Rock, der einer Kampfmaschine gleicht, auch kostümlich ihrem Namen. In Worms wird ihr ein Brautkleid übergestülpt. Kriemhilds Trauerrobe stammt aus der Kleiderkammer für Rachefurien.
Die Schauspieler agieren wegen der überlauten Beschallung durch Andreas Catjar mit Mikroports, eine Unart. Dennoch hinterlässt das große Ensemble ebenso geschlossene wie einprägsame Wirkung. An erster Stelle muss der Gunther von Sebastian Brandes genannt werden. Mit viel Sinn für Ironie und sprachliche Volten verhilft Brandes seiner Figur, unerachtet ihrer Charakterschwäche, zu enormer Bühnenpräsenz. Henner Momann macht Hagen zu einem smarten Drahtzieher ohne Finsterling-Attitüde. Bis in den Untergang gibt er vor, die Sachzwänge auf seiner Seite zu haben. Der Siegfried von Nicolas Fethi Türksever nimmt durch vollen Körpereinsatz vor allem in den gewagten Kletterpartien für sich ein. Anika Baumann beglaubigt Kriemhilds wahrhaft königliche, keineswegs kriecherische Liebe zu Siegfried und final des Drachentöters Rächerin. Die Brunhild von Leoni Schulz ist ein Eisblock. Michael Pietsch destilliert aus Volker den wendigen Entertainer. Lorenz Klee als Gerenot und Julian von Hansemann als Giselher sind die - jeder auf eigene Art - skrupulösen Brüder des Burgunderkönigs. Armin Dillenberger, Martin Herrmann und Johannes Schmidt ironisieren die weibmännlichen Nornen. Monika Dortschy bietet für des Königs Mutter Ute die Autorität einer Doyenne auf.
Großer mit zahlreichen Bravorufen durchsetzter Beifall.