Mars im Schauspiel Frankfurt

Unreif für den Mars

Längst wird der erdähnlichste Planet im Sonnensystem als das nächste Ziel der Personenraumfahrt angepeilt. Im Gegensatz zu den Mondlandungen geht es dabei nicht um Stippvisiten, sondern um dauerhafte Besiedelung, Kolonisation. Über die Auswahlverfahren für die künftigen Marsianer wird seit einigen Jahren immer wieder in den Medien berichtet.

Kaum aber denkbar, dass die Bewerber in Marius von Mayenburgs jüngstem hundertminütigem Stück auch nur zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden wären. Weder dem mittelständischen Unternehmer in fortgeschrittenen Jahren dürften in den gegenwärtigen Raumfahrtprogrammen Chancen einzuräumen sein noch seiner Tochter mit unabgeschlossenem Medizinstudium oder dem jungen Mann in der Endlosschleife seines Konflikts mit dem psychopathischen, allzeit gewaltbereiten Zwillingsbruder, der - kaum verwunderlich - ebenfalls zu den Bewerbern zählt. Doch so aussichtslos die Zusammenstellung der Kandidaten anmutet, es bleibt die Frage nach den für die Marsmission erforderlichen Kompetenzen. Die Figuren stehen eindimensional jeweils für die Ausrichtung am Gruppenkonsens, eine eher flexible und fallbezogene Auffassung der Menschenrechte, also letztlich deren Suspendierung, und rohe Gewalt. Von Mayenburg lässt offen, welche Eigenschaften jener elegante Androide bevorzugt, der in diesem Assessmentcenter die Aufgaben stellt und deren Ausführung überwacht.

Die drei Prüfungsstationen sind als Bedrohungsszenarien angelegt. Ein hyperrealistisch animierter Wald, der gefährlicher droht als jeder Naturalismus, das Affenhaus eines Zoos, dessen Primaten offenbar nicht von dieser Welt stammen, ein gefechtsstandartiges Gebäude, das von den Bewerbern gestürmt werden soll. Niemand anderem begegnen final die Prüfungskandidaten dort als sich selbst.

Virtuose Verrätselung hält die Spannung des Stücks aufrecht. Immer wieder blitzt aus den psychologisch-realistischen Dialogen Ironie. Kontrastiv dazu ergeht sich der androide Prüfer in rhetorisch gehobener Stillage, die freilich zwischendurch in unbedarftes Reimgeklingel abstürzt. Wie konkrete Poesie rezitiert der geisteskranke Gewaltmensch die drastischen Nebenwirkungen des Psychopharmakons, das er sich einzunehmen weigert, geradewegs vom Beipackzettel.

Von Mayenburgs Regie stellt sich allzu gezügelt in den Dienst am eigenen Stück. Figuren und Konstellationen werden blitzblank herausgearbeitet. Schärfe und Brisanz der Prüfungssituationen geraten dabei dennoch ins Hintertreffen. Der alternde Unternehmer erfüllt das Klischee des letztlich skrupellosen Besitzbürgers, seine Tochter ist ebenso unreif und konsensorientiert, wie sie eben sein soll, der Psychopath ist zwar mordsgefährlich aber nicht gänzlich unsympathisch, sein Bruder eine Null. Einzig dem Androiden gönnt von Mayenburg facettenreiche Ambivalenz. Bezieht diese posthumane Lebensform in den Lobpreis des Schönen das Geld mit ein, dann mutiert im Feierton der einstmals platonische Eros zur verfügbaren Ware.

Die Videosequenzen, aus denen das Bühnenbild von Sébastien Dupouey im Wesentlichen besteht, wachsen sich zu regelrechten Mitspielern aus, ohne die sich das Bühnengeschehen kaum nachvollziehen ließe. Zum Faszinosum werden die von Menschen verkörperten seltsamen Primaten, sie scheinen die Prüflinge intensiver zu beobachten als umgekehrt. Ob sie tatsächlich im Zoo eingehegt sind, steht doch sehr in Frage. Denn zuweilen tummeln sie sich auch in einem weniger irdischen als offenbar exoplanetarischen Urwald.

Die Figuren kleidet Almut Eppinger funktional, wie das eben der Fall ist, wenn man sich auf unspezifische Herausforderungen in freier Wildbahn vorbereitet.

Michael Schütz, der den alternden Unternehmer Achim verkörpert, und Luana Velis als dessen Tochter Johanna steuern zur geschlossenen Ensembleleistung ebenso bei wie Nils Kreutinger als des Psychopathen farbloser Bruder Edgar. André Meyer gibt den ebenso wahnsinnigen wie gewaltversessenen Zwilling Oskar. Torsten Flassig portraitiert den Androiden Yannik freundlich und zugewandt, ein Neutrum, das an Kastraten erinnernd, mit höchst angenehmer Stimme sein Loblied auf die Schönheit zur Schauspielerarie gestaltet.