Über den Wolken
Wer erleben möchte, wie vierzehn Sänger in der grandiosen Schlussszene von Rossinis letzter Oper Il Viaggio a Reims kleine Papierflieger ins Publikum werfen, die vom ersten Parkett begeistert aufgefangen werden, der muss nach Hannover reisen. Hier ist eine musikalisch wie szenisch außergewöhnliche Opernproduktion zu goutieren. Von Viaggio gab es nach der Uraufführung 1825 nur drei weitere öffentliche Aufführungen; das Werk wurde später durch Claudio Abbado 1984 in Wien „wiederentdeckt“, ist aber wegen der hohen Zahl von vierzehn erforderlichen Weltklasse-Stars nur selten gespielt. Im Libretto von Giuseppe Luigi Ballocco macht eine europäisch bunt gewürfelte Gesellschaft von Festgästen auf der Reise zu den Krönungsfeierlichkeiten Karls X. von Frankreich in Reims Station in einem Badehotel in Plombières. Hier bleiben die Herrschaften allerdings hängen, da keine Pferde zur Verfügung stehen; so beschließt man die Zeit für eine große Party zu nutzen mit nationalen Selbstdarstellungen der Gäste, mit kleinen Amouren und zwischenmenschlichen Reibereien. In Hannover ziert der Papierflieger das üppige und sehr lesenswerte Abendprogramm. Zu Recht, hat doch das Produktionsteam Matthias Davis (Regie), Marina Hellmann (Bühne) und Leo Lulas (Kostüme) die einaktige Geschichte in die Abflughalle des „Aéroport Charles X“ verlegt, wo – man ahnt es leicht – später alle Flüge aus unbekannten Grunde gecancelt wurden; so konnte man es auf der großen Anzeigetafel lesen. Das passt auch genau zum Libretto. Zu Beginn des „Fluges“ macht die kesse Stewardess Isabella (Carmen Fugiss) das Publikum mit den Sicherheitsvorkehrungen, dem Rauchverbot und den zwölf Notausgängen sowie auf das gänzliche Fehlen von Sauerstoffmasken vertraut; im Notfall sollte man daher seinen Mund fest auf Mund und Nase seines rechten Nachbarn drücken. Da kam gleicht die rechte Stimmung auf im ausverkauften Hause.
Bühne und Inszenierung sprühen nur so voll wohltuender, liebevoller Ironie, wenn auch gelegentlich knapp am Klamauk vorbei, wie etwas beim stamm betrunkenen und total durchgeknallten russische Conte de Libenskof, herrlich gespielt und gesungen von Sung-Keun Park. Aber irgendwie passt alles perfekt zusammen, man hatte nicht Augen genug um alles mitzubekommen. In der Abflughalle wirbelt es nur so von Reinigungspersonal, Piloten und Stewardessen, Servicepersonal und sonstigen Bediensteten; sogar ein Astronaut in voller Montur tapst über die volle Bühnenbreite. Nach und nach trudeln die Fluggäste ein, betreut von der Chefin des Bodenpersonals Madama Cortese (Carmen Fugiss). Die einzelnen Charaktere sind weit ausgereizt, etwas der Flughafenarzt im OP-Outfit und Defibrillator, den er sehr effektiv und Lachsalven erzeugend ansetzt. Die berühmte Sängerin Corinna (Athanasia Zöhrer mit herrlichem höhensicheren Sopran), sich vor Verehrern nicht retten kann, ist die perfekte Karikatur einer Diva, begleitet von einer Soloharfe auf der Bühne (Ruth-Allice Marino). Don Profondo (Frank Schneiders mit sonorem volltönendem Bass), ein Literat und Antiquitätensammler, animierte die Gesellschaft zum Gesang aus der Heimat und schmetterte selbst die Deutsche Nationalhymne; selbst ein klassischer Jodler ist zu vernehmen. Auch die Kostüme passten perfekt in den Opernspaß, so etwa der extravagante Hut der Gräfin von Folleville (umwerfend: Nicole Chevalier), der nach anfänglichem Verlust dann doch wieder auftauchte.
Baron von Trombonk, ein deutscher Musikkenner (Michael Dries), agiert im Outfit von Moshammer mit Krawatte in den Deutschlandfarben. Und Marchesa Melibea (Josy Santos) spielt und singt erfolgreich und mit herrlichem Sopran gekleidet wie Michael Jackson mit typischer Frisur und roter Jacke.
Die musikalischen Qualitäten aller Protagonisten sind durch die Bank ganz hervorragend, sodass keine „Palmen des Abends“ vergeben werden können; sie gebühren schlichtweg der gesamten Sängerschar. Die sich auch schauspielerisch hervorragend schlug; man kann sich gut vorstellen, welchen Spaß die Proben gemacht haben dürften. Auch die Orchester-Seite muss hoch gelobt werden. Dirigent Gregor Bühl hat seinen Rossini sicher im Griff: Mit Sorgfalt, Schwung und großem Bemühen um Differenzierungen wird musiziert, er führt mit Temperament und viel Gespür für die ironischen Zwischentöne der Partitur das Orchester durch die virtuosen Nummern. Und trägt die Sänger gleichsam auf Händen. So wird hörbar, welch Erfindungsreichtum und komödiantischer Furor in dieser lange verschollenen Oper steckt. Ein Sonderlob gebührt noch den Übertiteln in köstlicher Alltagssprache, die machen Lacher ausgelöst haben dürften; da wird ein Hoch auf Rossini gesungen, bei der englischen Nationalhymne erscheint das Bild der Queen und zum Schluss werden die Zuschauer aufgefordert nachzuschauen, ob sie nichts im Flieger haben liegen lassen.