Nach dem Gemetzel ist vor dem Gemetzel
Bei den Wormser Nibelungenfestspielen geht der deutsche Erzmythos in die Nachspielzeit. Feridun Zaimoglus und Günter Senkels neues Stück setzt ein, wo das Nibelungenlied endet. Das Burgunderheer wurde in der Etzelburg vernichtet, doch folgt für das Autorengespann auf jenes Gemetzel ein Schlachtfest zu Worms.
So beschließt der Hunnenkönig, mit seinem Heer ins Rheinhessische zu ziehen, um dort das Reich der Burgunder als Erbe seiner verstorbenen Frau Kriemhild anzutreten. Konkurrenz erwächst ihm mit Siegfrieds Eltern, dem Königspaar der Niederlande. Keinesfalls leer ausgehen wollen auch König Gunthers Witwe Brunhild und dessen Mutter Ute. Rasch lädt sich das Spannungsfeld aus Erbschaftsansprüchen obendrein zu einem der Religionen und Kulturen auf. Denn nicht allein Etzel repräsentiert gegenüber den christlichen Burgundern und Niederländern das heidnische Element, auch Brunhild bleibt im Herzen ihren germanischen Göttern treu. Zusätzlich befeuern Zaimoglu und Senkel ihr Stück mit einem Generationenkonflikt, in dem die Kinder Siegfrieds und König Gunthers sich der Instrumentalisierung durch die Altvorderen widersetzen. Die Ballung von Zwist und Hader entlädt sich im neuerlichen Massaker. Final brechen die Niederländer den Burgundern das Genick, Etzel massakriert die Niederländer. Übrig bleibt völlig unerwartet Brunhilds friedliebender Sohn Burkhardt, den der Hunnenkönig zum Adoptivsohn und Nachfolger ausersieht und damit für einen die Konfrontation der Völker, Religionen und Kulturen überwindenden utopischen Lichtblick sorgt.
Jenseits aller postdramatische Ansprüche sortieren Zaimoglu und Senkel die Konfliktlagen zu einem funktionstüchtigen Stück. Sprachlich erweisen sich die Autoren als Poeten von Rang, die auf geschliffene Dialoge und sprachliche Eleganz setzen. Die vielen Alliterationen - Etzel führt den Titel „Hoher Hunne“ - fügen sich dem meist unprätentiös ein. Ab und an verlieren Zaimoglu und Senkel die Distanz zum oft historisierenden Sprachgestus. Dann setzt der Text leichte Patina an.
Regisseur Roger Vontobel entfesselt in seinen besten Augenblicken die archaische Wucht des Mythos. Etwa wenn es für kurze Zeit scheint, als ob Ute, Brünhild und Siegfrieds Tochter Swanhild einen drei Generationen sowie Heiden- und Christentum übergreifenden Dreibund schließen könnten. Das Innere des Domes via Video-Liveübertragung ins Spiel einzubeziehen, ermöglicht Hintergrundhandlungen zu visualisieren. Meist aber beschränkt sich Vontobel darauf, die Abläufe mehr oder minder zweckdienlich zu arrangieren. Die Auftritte und Abgänge des Hunnenkönigs sind von seltener Belanglosigkeit. Brunhild lässt die Walküre in ihr nicht einmal erahnen. Eher gehört sie in ein amerikanisches Dutzendfamiliendrama üblichen Zuschnitts. Außer Dietrich von Bern wächst - unerachtet ausgiebiger Schlammbäder - keine Figur zu einer Größe auf, die sie über das allfällige Mittelschichtsgeplänkel hinaus hebt.
Vor das romanische Langhaus des Wormser Doms baut Palle Steen Christensen eine funktionale Bühne mit einer Treppe samt abschließendem Podest, auf der der Streit um das Nibelungenerbe augenfällig ausgetragen werden kann. Der Feuerzauber aus einem in den Bühnenboden eingetieften Schacht bewährt sich als hübsches Accessoire. Ein echter coup de théâtre des Videokünstlers Clemens Walter verzerrt die Domfassade via Projektion zur Baufälligkeit. Analog zur dräuenden Katastrophe im Drama scheint der Einsturz der einstigen Kathedrale unmittelbar bevorzustehen.
Die Kostüme von Nina von Mechow nähern sich in noch erträglicher Weise dem Historienschinken.
Monoton vor sich hin sprechend und meist statuarisch dünnt Jürgen Prochnow Etzel zur beinahe neutralen Figur aus. Zwar bedarf es des Hunnenkönigs Anwesenheit auf der Bühne, sonst aber ist von ihm kaum weiter Notiz zu nehmen. Daniel Lommatzsch als dessen loyaler Gefolgsmann Dietrich von Bern zeigt sich darstellerisch präsent und zeichnet sich durch zugleich schmiegsame und prononcierte Textarbeit aus. Ursula Strauss ergreift die Möglichkeiten, die Zaimoglu und Senkel Brunhild mit auf den Weg gegeben haben, lediglich obenhin. Starke matriarchalische Akzente setzt Wolfgang Pregler als Königsmutter Ute. Bruno Cathomas und Karin Pfammatter als niederländisches Königspaar Siegmund und Sieglinde sorgen für effektsichere Skurrilität. Den Einbruch des Fremdartigen, Hunnischen, der Steppe in die christlich-europäische Intrigenwelt beschwört der mongolische Kehlkopfgesang von Enkhjargal Dandarvaanchig.