Die Welt als sich drehende Scheibe
Die Welt ist eine Scheibe, die sich dreht und dreht - und selten zum Stillstand kommt. Auf ihr kommen sie sich näher, gehen auf Distanz, schlagen und lieben sich. Doch keiner kann sich ihr entziehen. Eine szenische und dramaturgische Vorgabe, die fast zwei Stunden lang in Atem hält, die Akteure gefangen nimmt und Symbol für die Figuren wird, deren „Endstation“ nicht immer „Sehnsucht“ heißt. Aber sicher für alle: Liebe, und sei sie noch so unterschiedlich.
Schlagkräftig bei Stanley Kowalski, den „Pollacken“, der es in die Welt hinausschreit, ein „Pole“ zu sein (Michael Neuenschwander). Vor allem aber ein wahrer Amerikaner. Verträumt, verlogen und doch voll wahrer Sehnsucht für Blanche DuBois (Lena Schwarz), die Sünderin und Heilige zugleich ist, gefangen in einer Traumwelt. Sie sehnt sich nach Liebe - und verliert doch alles. Sogar ihre Freiheit, wenn sie, im Schlussbild, den Weg in die Irre, richtiger: ins Irrenhaus geht.
Ganz und gar nicht in der Irre landet Bastian Krafts Inszenierung von Tennessee Williams‘ Endstation Sehnsucht. Übrigens auf derselben Bühne, auf der 1949 das Stück erstmals in deutscher Sprache das Bühnenlicht erblickte: auf der des Zürcher Schauspiels. Im „Pfauen“ gelingt dabei Erstaunliches. Krafts konzentriertes, ganz und gar nicht extrovertiertes „Kammerspiel“ lässt nicht selten sogar Elia Kazans berühmte Verfilmung mit Marlon Brando und Vivien Leigh vergessen.
Das gelingt Kraft dank einer bewundernswerten Personen-Führung. Aber auch dank des Bühnenbildes von Peter Baur. Nichts lenkt hier ab, kein Südstaaten-Kitsch führt auf die falsche Fährte, keine zwanghaft herbeigeführte Aktualisierung dreht dem dramatischen Spiel den Hahn ab. Wie leicht hätte man das heutige Amerika mit seiner gespaltenen Gesellschaft ins Spiel bringen können: in der Gestalt der Blanche das abgewrackte Establishment, im rüden Stanley das neue Amerika des Donald Trump.
Kraft setzt, und das ist das große Verdienst seiner Inszenierung, ganz auf die Charaktere. Und ihm gelingt vor allem das Kunststück, das Handeln der Menschen in Williams‘ Stück weder zu be- noch gar zu verurteilen. Er setzt ganz auf Menschen mit all ihren Fehlern und Schwächen, Lebenslügen und Brutalitäten. Doch am Ende ist man erstaunt, mit welcher Deutlichkeit und Verve Krafts Regie auf die Kraft der Liebe setzt. Sie allein ist bei allen, in aller Unterschiedlichkeit, der Kern ihrer Existenz und Sehnsüchte.
Eine der schönsten und mitreißendsten Szenen, die das erahnen lässt, folgt just der Situation zuvor, in der Stanley seine schwangere Stella brutal niedergeschlagen hat: Langsam gehen sie auf der sich drehenden Scheibe aufeinander zu, berühren und umschlingen sich, ehe er sie emporhebt und im Kreise schweben lässt. Ein geradezu mythisch wirkendes Bild für die beschworene Macht der Liebe.
Dreh- und Angelpunkt der Zürcher Inszenierung ist freilich die Blanche der Lena Schwarz. Ganz in Weiß betritt sie die Szene, weiß von den Haaren bis zu den Füßen. Weiß sogar der Koffer, der bis zum Ende der Aufführung sinnbildlich im Bild bleibt. Stets auf dem Sprung ist diese irrlichternde Frau, nirgends zu Hause, wegen ihrer Lebenslügen immer auf der Flucht. Auch wenn sie sich nach Ruhe sehnt. Hier hofft sie, Ruhe in den Armen Mitchs (Klaus Brömmelmeier), eines recht naiv-tumben, aber verlässlichen Mannes zu finden. Doch als ihre zwiespältige, durch Lügen lange aufrecht erhaltene Fassade dank Stans Recherchen zerbröselt, ist auch Mitch Endstation für Ihre Sehnsucht .
Bewundernswert ist dabei vor allem, wie Krafts Regie nie in Hektik verfällt, sondern gerade durch bewusste Verzögerungen und Pausen die Spannung in Williams‘ Figuren-Dreieck aufrecht erhält. In dieser Inszenierung ist keiner wirklich bei sich. Alle sind auf der Suche. Dazu passt die immer wieder einmal im Hintergrund erscheinende Nebelwand, von der die Menschen oft verschluckt werden - und in der, kaum erkennbar, ihre Gesichter verzerrt erscheinen.