Die Politiker und das Prekariat
Nach den personalintensiveren Abend über Berlin und Abiball warten Hübner und Nemitz nun mit einem Dreipersonenstück auf, das pausenlos in knapp zwei Stunden über die Bühne des Schauspielhauses geht.
Der Spitzenbeamte und Oberbürgermeisterkandidat Braubach hat mit seinem Auto einen jugendlichen Kleinkriminellen angefahren und schwer verletzt. Juristisch trifft Braubach keine Schuld, doch in einer Mischung aus Anteilnahme und politischem Opportunitätsdenken im Zeichen seines aktuellen Wahlkampfes taucht er bei Nele Siebold, der Mutter des Unfallopfers, auf, um ihr zielführende Vorschläge zu optimaler medizinischer Versorgung, gesundheitlicher Rehabilitation und beruflicher Ausbildung ihres Sohnes zu unterbreiten. Die selbstständige Altenpflegerin will zustimmen, doch mischt sich ihr offenbar im selben Haushalt lebender Neffe Jerome ein, der, wenn er sich nicht als Paketfahrer ausbeuten lässt, mit Hasstiraden gegen Politiker im Netz unterwegs ist und nun die Gelegenheit gekommen sieht, ein leibhaftiges Exemplar zu stellen. Die aufgestaute Wut bricht sich in einer Mixtur aus Schmährede, Erpressung und körperlicher Attacke Bahn. Final weist Nele den Neffen in seine Schranken und aus der Wohnung, um sich trotz des Eklats Braubachs Einsatz für ihren Sohn zu vergewissern.
Furor besticht formal durch dialektische Argumentationsmuster, effektvolle Räsonnements und geschliffenes Parlieren. Dennoch reden die männlichen Kontrahenten aneinander vorbei. Von „kommunikativem Handeln“ findet sich auf beiden Seiten kaum eine Spur. Allein Braubach und Nele Siebold treten tatsächlich in Dialog. Das Stück ergreift weder für Braubach noch für Jerome Partei. Darin liegt seine wesentliche Qualität. Hübner und Nemitz entwerfen die Gegenspieler durch und durch ambivalent. So hat Braubach, der auf dem zweiten Bildungsweg zu seinem Abitur gekommen ist, selbst als Paketbote gearbeitet, freilich unter den im Vergleich zu heute durchaus komfortablen Bedingungen der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Gewerkschaften waren stark und der soziale Aufstieg durch Bildung keineswegs außergewöhnlich. Jerome hingegen hat nichts als sein Scheitern in Schule und Ausbildung, den prekären Job und seinen Hass. Die großspurigen Tiraden, der Erpressungsversuch sowie die körperliche Attacke täuschen über die völlige Planlosigkeit seiner Aktionen nicht hinweg. Was aber beide Männer eint, ist die immer wieder durchbrechende Larmoyanz. Neles Sinn für Realität und Machbarkeit mutet vor diesem Hintergrund desto sympathischer und beinahe wie ein utopischer Vorschein an.
Regisseur und Hausherr Anselm Weber gibt dem well made play, was es fordert und was ihm gebührt, in erster Linie Schauspielertheater, das den Text auskostet, bis die wechselseitigen Invektiven sich in Handgreiflichkeiten entladen. Das Timing nicht allein des Textes, sondern überdies der Spielleitung funktioniert präzise wie ein Uhrwerk, so dass der Keim zu körperlicher Attacke schon im ersten Wortwechsel Braubachs mit Jerome enthalten zu sein scheint.
Lydia Merkel schließt das Bühnenportal mit einer tapetenartigen Hochhausfassade, aus der das Wohnzimmer der Siebolds herausgeklappt ist. Die spärliche Einrichtung stammt aus dem nächstgelegenen Möbeldiscounter.
Die Kostüme von Irina Bartels ordnen die Figuren den sozialen Milieus zu. Die Hässlichkeit der Paketbotenmontur entspricht dem, was im realen Leben tatsächlich in diesem Metier geboten wird.
Auf der Bühne agiert eine Trias, die Furor als intensives Kammerspiel aus der Taufe hebt. Dietmar Bär nimmt den Ministerialdirigenten und Oberbürgermeisterkandidaten Braubach trotz allen Imponiergehabes, allen Selbstmitleids und der schließlichen Bereitschaft zu gewaltsamer Konfrontation weitestmöglich zurück. Statt einen vollsaftig-jovialen Politprofi zu geben, verleiht er der Figur beinahe so etwas wie Diskretion. Bär zieht auf diese Weise eine zusätzliche Ebene ins Stück ein. Fridolin Sandmeyer gibt - von der Rhetorik der Rolle durchaus nahegelegt - die ins Leere laufende Aggression Jeromes mit der Mortimer-Emphase klassischer Schauspielkunst. Katharina Linder zeichnet Nele Siebold als soziale Studie aus dem abgesunkenen Kleinbürgertum.
Kein Zweifel, der Abend legt den Finger in die Wunde der Schwundstufe echter Kommunikation zwischen vermeintlichen Eliten und Prekariat. Der Gesellschaftsvertrag, der die Republik bislang zusammenhielt, droht zu zerreißen. Starker Beifall für Stück und Aufführung.
P.S. Am Tag nach der Premiere stellte das Schauspiel Frankfurt den Chagallsaal des Foyers für die 46. Römerberggespräche zur Verfügung, die - mitinitiiert vom damaligen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann - seit 1973 eines der wichtigsten Foren zivilgesellschaftlicher Verständigung vor Ort sind. Unter dem Leitspruch „Die neue Lust an der Zerstörung oder wie die Demokratie ihre Fassung bewahrt“ trug die Veranstaltung mit ihren Vorträgen und anschließenden Diskussionen auch zum tieferen Verständnis der Furor-Thematik bei. Besonders der rhetorisch brillante und intellektuell scharfsinnige Vortrag von Nicole Deitelhoff, Lehrstuhlinhaberin am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität, wirkte erhellend. Deitelhoff analysierte, wie eigentlich im öffentlichen Streit zu erringende Entscheidungen fortschreitend in Expertengremien verlagert und bürokratisiert werden. Aus solcher Entmündigung wachse im Volkssouverän jener Groll, der sich in Feindbildern und Hasstiraden entlade. Die Berliner Historikerin Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, will positiv besetzte Angst - wie sie sich etwa in der Antiatomkraft- und Friedensbewegung ausgedrückt habe - von der negativen Angst auf der gegenwärtigen Rechten unterschieden wissen. Bezogen auf Furor liegt in der Fortführung von Deitelhoffs Thesen der gleich doppelte Ausschluss des Prekariats von gesellschaftlicher Teilhabe am Tag. Zunächst - wie im Stück thematisiert - durch die unregelmäßige und gedrückte Einkommenssituation im Niedriglohnsektor, dann aber auch in der zunehmenden Entmündigung durch jene, die sich als politische Elite definieren. Ob unter solchen Umständen greifen und produktiv werden kann, was Frevert unter positiv besetzter Angst versteht, muss doch sehr dahingestellt bleiben.