Chinesisches Roulette
„So viele Fehler…“ klagt Dramaturgin Janine Ortiz. Immer noch hoch emotionalisiert von einem außergewöhnlichen Theaterabend stehen wir zwei Stunden nach dem Schlussapplaus an der Bar des Huating Hotels in Shanghai. Die derzeit erfolgreichste Produktion des Düsseldorfer Schauspielhauses hatte gerade ihre China-Premiere beim größten Kunstfestival Asiens, dem Shanghai International Arts Festival, gefeiert. Es war ein Gastspiel mit Hindernissen, aber die drei Abende in der chinesischen Mega-City wurden zu einem rauschenden Erfolg für das Theater der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt.
Robert Wilson hat E. T. A. Hoffmanns romantisches SchauermärchenDer Sandmannfür die Düsseldorfer Bühne in ein grandioses Rock Musical verwandelt. Zu den mitreißenden Rock- und Pop-Balladen der britischen Singer-Songwriterin Anna Calvi hat er Bilder gefunden, die die typischen Wilson’schen Licht- und Schattenspiele perfekt mit der Schauermärchen-Ästhetik verbinden: alptraumhaft und wunderschön. Wer den US-amerikanischen Theatermagier kennt, der weiß: Der Regisseur ist ein Perfektionist. Äußerste Exaktheit ist Voraussetzung für die Wirkung seiner Inszenierungen. Die abgezirkelten, stilisierten Bewegungen seiner Kunstfiguren bedürfen höchster Präzision bei der Lichtregie; Sprache, Musik und Schattenspiele werden mit maximaler Genauigkeit aufeinander abgestimmt. Die inzwischen international renommierte Produktion des Düsseldorfer Schauspielhauses erfüllt diese Anforderungen auf heimischer Bühne perfekt, und der Anspruch des hochkarätigen Düsseldorfer Teams ist es, diesen Perfektionsgrad auch bei den internationalen Gastspielen zu erfüllen. Janine Ortiz aber, Musikwissenschaftlerin, Dramaturgin und Verantwortliche für die Textfassung dieser außergewöhnlichen Produktion – auch sie eine Perfektionistin -, hatte in Shanghai einen merkwürdigen Abend erlebt. „So viele Fehler“ hatte sie gesehen – und so viel Applaus hatte der Abend bei seiner Asien-Premiere bekommen.
Noch am Abend zuvor hatte der Versuch, den Transfer der aufwändigen Inszenierung in die neue, riesige Spielstätte im Grand Theater zu bewältigen, einem chinesischen Roulette-Spiel geglichen. Gegen 21.00 Uhr hatte die kleine Reisegruppe der „Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses“, die zu begleiten der Schreiber dieser Zeilen die Ehre hatte, schüchtern am Bühneneingang des Theaters angeklopft, um den letzten 90 Minuten der Schlussproben in der 1800 Zuschauer fassenden größten Theaterbühne Shanghais beizuwohnen. Auf sechs Stunden waren die Proben angesetzt: Licht und Sound mussten neu programmiert und auf die größeren Dimensionen sowie die andere technische Ausstattung des chinesischen Theaters angepasst werden. Bis 22.30 Uhr sollte die Neuprogrammierung von mindestens der Hälfte der Aufführung im Kasten sein; den Rest wollte man am Morgen des Premierentages erledigen. Doch das Gastspiel, das maximale Präzision erforderte, traf auf maximale Schwierigkeiten. Schon die Zollkontrolle im Hafen von Shanghai wurde zum bösen Omen: Eifrige chinesische Zollbeamte hatten eines der kleinen Fässer mit der Flüssigkeit zum Abschminken aufgeschnitten und festgestellt: Contains Alcohol – Einfuhr verboten. Eine Shanghaier Apotheke wusste Rat und sorgte für Ersatz. Doch die wahren Herausforderungen lagen noch in der Zukunft.
So erwies sich die Vereinbarung der Probenzeiten im Grand Theater auf Seiten der Chinesen als eine eher lockere Verabredung. Doch kommt Zeit, kommt ein chinesischer Magier und zeigt dem Team eine Hintertür: „Sesam öffne dich“. Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Problemlösungstechniken: Es gilt, sich im Hinblick auf die Premieren-Vorbereitung mit gleich vier Institutionen abzustimmen. Da ist das Theater, das die Räume zur Verfügung stellt, aber kein eigenes technisches oder künstlerisches Personal hat. Da ist die Festival-Organisation, die mehr als 60 Gastspielproduktionen aus aller Welt aus den Bereichen Musik, Tanz und Drama betreut und eine herausragende Ausstellung internationaler Bildender Kunst im Skulpturenpark von Shanghai organisiert hat. Da ist die chinesische Leiharbeits-Firma, die die mit 70 Personen angereiste Experten-Truppe des Düsseldorfer Schauspielhauses in technischer Hinsicht unterstützen soll. Und da ist das Immobilienmanagement, das sich unter anderem um Sicherheitsfragen wie Brandschutz etc. kümmert. Alle haben ausgedehnte Pausenzeiten, die nicht notwendigerweise aufeinander abgestimmt sind, und irgendwann ist auch die tarifliche Maximalarbeitszeit der deutschen Mitarbeiter erschöpft, selbst wenn diese anstelle der vorgesehenen sechs Probenstunden maximal zwei Drittel dieser Zeit effektiv gearbeitet haben. Denn: Man spricht Deutsch, man spricht Englisch, aber mancher wichtige Mitarbeiter vor Ort spricht nur Chinesisch, und gibt es ein Problem, wird dieses streng hierarchisch diskutiert: Erstmal wird Hierarchiestufe für Hierarchiestufe nach oben delegiert, und dann wird über den gleichen Kanal die Lösung kommuniziert. Das garantiert die maximale Einbeziehung aller Entscheidungsträger und Verantwortlichen, aber nicht eine zeitnahe Problemlösung.
Bewundernswert geduldig und konzentriert geht das Team aus Schauspielern, Musikern, Lichtkünstlern und Backstage-Mitarbeitern zu Werke. Was heute nicht klappt, machen wir halt morgen früh, lautet die Devise, und irgendwie beschleicht den Eindringling bei der Schlussprobe das unangenehme Gefühl, das er hatte, als er vor vierzig Jahren mit lauter fliegenden Blättern vierundzwanzig Stunden vor der Abgabe seiner Diplom-Arbeit hilflos am Schreibtisch saß. Beinahe glaubt die Gruppe der D’haus-Ultras, die ihr Theater über Tausende von Kilometern begleitet hat, dennoch an einen glücklichen Ausgang des Unternehmens, als sie erfährt: Der junge Mann dort am Lichtpult, der einen der wichtigsten Backstage-Parts in dieser Aufführung hat, fährt diese Inszenierung zum allerersten Mal. „Licht“, so hatte Bob Wilson im Vorfeld der Düsseldorfer Premiere bei einer Publikumsdiskussion im Großen Haus des Schauspielhauses gesagt, „Licht hilft uns nicht nur, besser zu sehen, sondern es hilft uns auch, besser zu hören.“ Anders als bei seinen Regie-Kollegen steht das Licht bei Wilson stets am Anfang des Probenprozesses. Es ist für ihn das entscheidende Medium für das Gelingen oder Nicht-Gelingen einer Aufführung. Nun fallen die beiden routinierten Schauspielhaus-Kollegen, die bislang für diese Produktion zuständig waren, kurz vor der Reise aus. „Macht Euch nichts draus“, sagen die Freunde des Schauspielhauses: „Wir sind zwölf, und auch wenn alles schiefgeht, applaudieren wir wie zwölfhundert.“
Und dann: sitzen wir in der Premiere, die poetischen Bilder des Beginns werden wie in Düsseldorf durch ein plötzliches Rock-Gewitter gebrochen: „There will be a Horror!“ Das glauben wir aufs Wort nach den Erkenntnissen von gestern, und das Team des Schauspielhauses befürchtet es wohl auch. Ist der Sandmann-Auftakt wieder ein böses Omen? Bald lassen die jungen Chinesinnen zu meiner Rechten ihre Mobile Phones in der Tasche verschwinden. Die anfänglich arg zu wünschen lassende Konzentration des Publikums wächst von Minute zu Minute. Schon nach etwa einem Drittel der Spieldauer kommt die Szene, die am Abend zuvor während unseres Probenbesuchs so mühsam einstudiert wurde. Von dem auf einem Podest sitzenden Christian Friedel ist nur eine blutrote Hand zu sehen. Friedels Nathanael fragt nach Papa, der bei einem alchemistischen Experiment mit dem unheimlichen Coppelius ums Leben gekommen ist. Exakt zum richtigen Zeitpunkt setzt die Musik ein. „Perfekt“, flüstert mir meine Nachbarin – diesmal die zur Linken - ins Ohr. Friedel rockt, zappelt und zetert aufgeregt mit feuerrotem Schopf über die Bühne, singt ein wunderschönes Duett mit Lou Strenger (Clara), Rosa Enskat trägt großartige harmonische Balladen vor - und spätestens als sie ihr „Surrender to the Waves“ anstimmt, hat der kritische Geist des Rezensenten kapituliert. Chinesen, so haben wir gelernt, applaudieren kurz und heftig und rennen dann eilig aus dem Theater. Ja, so haben wir das am nächsten Tag in einer anderen Aufführung erlebt. Beim Sandmann“ erheben sich die chinesischen Zuschauer zu Standing Ovations und belohnen die Düsseldorfer mit zahlreichen Curtain Calls. Jede Wette: Die „Fehler“, die Janine Ortiz argumentativ nachweisen konnte, hat kein Mensch entdeckt. Backstage stoßen wir mit dem Team an, und Wilfried Schulz hält eine kleine Rede. Zu Recht gilt der Dank des Intendanten nicht nur den Akteuren auf der Bühne, sondern vor allem auch der Technik, die einen sagenhaften Job gemacht hat.
Das Team des Schauspielhauses war zuvor ein wenig besorgt gewesen ob der Gerüchte über geringe Vorverkaufszahlen. Die Shanghai-Premiere war zu etwa 70 % ausverkauft; vor allem die besseren Plätze waren sehr gut gefüllt. Die Auslastung der zweiten Aufführung war noch höher. Am dritten Abend saß die Gruppe der Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses bei einem Abschiedsessen im Restaurant „Lost Heaven“, als eine SMS der Kollegin von der Rheinischen Post einging. „Stellen Sie sich vor“, schrieb Dorothee Krings, „die Karten für die Düsseldorfer Vorstellung werden heute Abend zu erhöhten Preisen gehandelt.“ In den sozialen Netzwerken wie Wechat wurde die Aufführung als „Must See“ gehandelt. Im Lost Heaven fühlten sich die Freunde des Schauspielhauses wie im siebten Himmel.
Eine Woche später nahm Oliver Hartmann, der Leiter des Goethe-Instituts Shanghai, in Vertretung des längst wieder heimgereisten Düsseldorfer Schauspielhauses den von einer Studenten-Jury verliehenen Publikumspreis für die beste Aufführung des Festivals entgegen. Irgendwann zwischen Weihnachten und Neujahr wird der Frachter mit Bühnenbild und Technik im Hafen von Antwerpen erwartet. Ab Mitte Januar gibt es wieder „Sandmann“-Vorstellungen in Düsseldorf, bevor Nathanael und Clara, Spalanzani und Olimpia, Coppola und Coppelius erneut auf Reisen gehen. Hoffentlich mit etwas weniger Roulette-Spiel.