Simon Boccanegra im Staatstheater Mainz

Seefahrerrepublik in schweren Wettern

Die dramaturgischen Verwirrungen in Simon Boccanegra übertreffen die des Trovatore bei weitem. In beiden Fällen griff Verdi auf eine Dramenvorlage des spanischen Romantikers Antonio Garcia Gutiérrez zurück, der darauf zielte, die Tragödien Shakespeares durch Unwahrscheinlichkeiten der Figurenkonstellation, Namenswechsel und Zeitsprünge in den Schatten zu stellen. Weil solche Kühnheiten das Schaffen des Komponisten beflügelten, lohnt die Mühe, sich auf das Ergebnis einzulassen. Zumal es Verdi als „Schmerzenskind“ galt. Denn die 1857 am La Fenice in Venedig herausgebrachte Urfassung scheiterte - wie Aufführungen vor etwas mehr als einem Jahrzehnt in Dublin und Gelsenkirchen bewiesen - zu Recht. Erst als sich Verdi gemeinsam mit Arrigo Boito kurz vor Beginn der gemeinsamen Arbeit an Otello der Revision des Werkes widmete, ebnete er den Weg zur triumphalen Uraufführung der Neufassung 1881 an der Scala. Sie präsentiert sich als ebenso einzigartige und faszinierende Synthese der Rigoletto-Faktur mit jener des Spätwerks.

Das Mainzer Staatstheater legt sich für die Oper vom Rand des Repertoires mit unbezähmbarer Verve und mitreißendem Aplomb ins Zeug. Dichte und Intensität der Produktion treffen Herz und Gemüt. Die Regie von Frank Hilbrich unterzieht sich der nahezu unlösbaren Aufgabe, die Handlung möglichst stringent zu erzählen. Daher zeigt Hilbrich, wie der Adelsführer Fiesco fortschreitend vergreist. Die schließlich bleischweren Bewegungsabläufe zeugen von präziser Beobachtung. Anfangs ein Mann in den besten Jahren, erreicht hingegen der Plebejer Simon im Verlauf der Handlung jenes Alter, in dem sich sein politischer Rivale Fiesco im Prolog befunden hatte. Während aber die Titelfigur zum die Versöhnung der gesellschaftlichen Gegensätze innerhalb der Stadtrepublik und den Friedensschluss mit dem um die Vorherrschaft auf dem Mittelmeer konkurrierenden Venedig beschwörenden Staatsmann reift, realisiert der politische Rivale und Schwiegervater wider Willen erst ganz am Ende, wie Rachedurst die eigene Seele nicht anders als den Staat zernagt. Zunächst zwischen den Parteien hin- und hergerissen, bekennt sich der Adelsspross Gabriele Adorno zu Amelia, die mit dem Plebejer Simon als Vater und dem Adelsführer Fiesco als Großvater mütterlicherseits die gesellschaftlichen Gegensätze in sich vereint, um sie durch ihre Liebe zum jungen Adorno zu versöhnen und aufzuheben. Hilbrich verleiht daher Amelia Anmut, Würde und Statur. Wenig davon besitzen die grauen Funktionäre und Apparatschiks wie Paolo, die effizient und manipulativ im Hintergrund agieren.

Die Bühne von Volker Thiele bietet mit ihren antikisch profilierten Durchlässen unspezifischen Klassizismus, der sich gleichermaßen zum Palastinnenhof wie zum Sitzungssaal des genuesischen Senats eignet. Ein Bassin inmitten weist auf die Allgegenwart des Wassers in der Seefahrerrepublik hin. Protagonisten wie Chor kleidet Thiele nach heutiger Fasson.

Chor und Extrachor des Staatstheater Mainz laufen unter Sebastian Hernandez-Laverny zu durchschlagskräftiger, rhythmisch zugleich flexibler und präziser Hochform auf.

Daniel Montané treibt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz das Drama unaufhaltsam, dabei äußerst sängerfreundlich, voran. Allenthalben leuchtet die Avanciertheit und kostbare Farbigkeit der Partitur auf.

Peter Felix Bauer findet sich darstellerisch wie vokal fortschreitend in die Titelfigur hinein. Spätestens im Finale des ersten Aktes beweist er sich als wuchtig formatierter Verdibariton. Von Anbeginn höchst präsent zeigt sich Derrick Ballard als Fiesco. Der Gabriele von Abdellah Lasri benötigt Anlaufzeit, entfaltet sich dann aber glanzvoll und raumgreifend. Vida Mikneviciute promoviert Amelia zum Ereignis, das selbst auf weit größeren Bühnen seinesgleichen sucht. Stupend erobert Mikneviciutes jugendlich-dramatischer Sopran strahlkräftig Szene wie Auditorium. Stephan Bootz profiliert Paolo, Valentin Anikin seinen Mitintriganten Pietro.