Syrien als historischer Krisenherd und Spielball auswärtiger Mächte
Binsenweisheiten sind leicht zu begreifen, doch oft desto schwerer zu beherzigen. So auch die, wonach Geschichtskenntnisse beim Verständnis der Gegenwart helfen. Der am Stadttheater Gießen uraufgeführte Alp Arslan leistet faszinierende Nachhilfe. Das dreiteilige von Pro- und Epilog gerahmte Werk spielt im syrischen Aleppo zur Zeit des ersten Kreuzzugs und zielt während seiner einhundertminütigen Spieldauer mitten ins Heute. Titelfigur ist der von seiner Machtfülle, den familiären Beziehungen und der Bedrohungslage durch das herannahende und die Stadt schließlich belagernde Kreuzfahrerheer schier überforderte sechzehnjährige Sultan von Aleppo. Die bei seiner Zeugung vergewaltigte Mutter kann ihn nicht lieben. Die Großmutter betrachtet den jungen Mann lediglich als ihr politisches Werkzeug. Auf der Suche nach einem Vertrauten wendet er sich daher dem in politischen Rankünen erfahrenen Eunuchen Loulou zu. Zwischen beiden entspinnt sich eine sexuell grundierte Hassliebe. Für den Eunuchen endet die Beziehung tödlich.
Librettist Willem Bruls ist ausgewiesener Fachmann für den Exotismus in der Oper und die Musik Syriens. Die klar strukturierte Handlung wird mindestens ebenso sehr wie von der Titelfigur und ihren zerrütteten Familienverhältnissen vom gleichermaßen intriganten wie liebebedürftigen Eunuchen geprägt, dessen Schmerzerfahrung durch die Entmannung den Pro- und die seines abgeschlagenen Hauptes den Epilog dominiert. Die Zentralfiguren agieren vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt im zwar vom Islam beherrschten, doch stark noch vom syrischen Christentum beeinflussten mittelalterlichen Aleppo mit seinen politischen und religiösen Parteien und deren wechselnden und fragilen Bündnissen selbst mit den Kreuzfahrern, eine brisante Mixtur, aus der sich die komplizierte Gemengelage noch im gegenwärtigen Syrien erklärt. So empfinden sich bis heute Christen wie Aleviten gleichermaßen als einflussreiche Minderheit wie als Außenseiter, weshalb der alevitische Assadclan bis zu einem gewissen Grad mit dem Verständnis der christlichen Hierarchie im Land rechnen darf.
Angesichts der geballten Orientalismus- und Syrienkompetenz seines Librettisten, verwundert nicht, dass sich Richard van Schoor ihrer für seine Komposition bedient. Durch Vierteltonklänge vereinbart van Schoor arabische Musiktraditionen und europäische Avantgarde. Originale Musik sowohl aus der islamischen wie der christlichen Sphäre Syriens findet ebenso Verwendung wie davon inspirierte Neuschöpfungen des Komponisten. Ein Quartett orientalischer Instrumentalisten fungiert als Bühnenmusik. Der einem Countertenor anvertraute Part des Eunuchen Loulou durchmisst drei Oktaven bis zum hohen A. Dem tenoralen Sultan wie seinem Vertrauten bieten die oft befremdlich tief einsetzenden Frauenstimmen vokales Paroli.
Regisseurin Cathérine Miville arbeitet die Figurenkonstellationen optisch prägnant heraus, wobei das Zeremoniöse der höfischen Atmosphäre im Sultanspalast und die sakrale der syrisch-orthodoxen Kirche die oratorienhafte Stilisierung begünstigen.
Bühne und Video von Marc Jungreithmeier projizieren Aleppo auf stufenförmig aus einer ansteigenden Scheibe herausragenden Podesten in unterschiedlicher Höhe, so dass sich durch zahlreiche Häuserzeilen gefüllte Bildstreifen ergeben.
Solistenensemble und Chor hüllt Monika Gora in folkloristisch-orientalische Gewandung.
Jan Hoffmann, der auch den ebenso mächtig wie kultiviert auftrumpfenden Chor samt Extrachor des Stadttheaters vorbereitet hat, knüpft mit dem Philharmonischen Orchester Gießen einen reich und feingliedrig ornamentierten Klangteppich.
Die Titelpartie geht Daniel Arnaldos mit meist wendigem aber etwas leichtgewichtigem Tenor an. Denis Lakey als Eunuch Loulou bewegt sich versiert durch drei Oktaven. Die beiden Frauenrollen sind so besetzt, dass sie zu Elementarereignissen werden. Marie Seidler stattet Bent Yaghisiyan, die Mutter des jungen Sultans, mit kostbar dunklem Mezzo aus. Rena Kleifeld als dessen Großmutter entlockt ihrem Alt jene matriarchale Urgewalt, unter der das Auditorium förmlich erzittert.