Übrigens …

Die Physiker im Münchner Volkstheater

Im Tangoschritt zum Weltuntergang

Von wegen bucklige alte Jungfer! Im Gegenteil ist Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd, Besitzerin und Leiterin einer renommierten Schweizer Irrenanstalt, im Münchner Volkstheater eine rothaarige, glamouröse Diva. Eine Chansonnette, die mit dem schleppend-lasziven Tango „Youkali“ von Kurt Weill die Sehnsucht nach einem fernen Paradies besingt.

Verkörpert wird die Chefärztin von der Schauspielerin Carolin Hartmann, die damit zugleich den Grundton für die Neuinszenierung von Friedrich Dürrenmatts Zweiakter Die Physiker anschlägt. Auf der Bühne an der Brienner Straße verpasst Hausregisseur Abdullah Kenan Karaca dem verrückten Endzeitspiel einen gehörigen Schuss Melancholie. Der einstige Regieassistent von Intendant Christian Stückl betont den tief pessimistischen Charakter dieses Atomstücks, das Fortschritt und Wissenschaft nicht als Chance sieht, sondern als tödliche Bedrohung für die Menschheit.

Im Zentrum dieses zwischen Krimi, Groteske, Komödie und Drama irrlichternden Werks steht der geniale Physiker Möbius, der die Entdeckung der Weltformel zu verbergen versucht. Deshalb behauptet er, der König Salomo sei ihm erschienen und habe ihm die Erkenntnisse eingeflüstert. Dem Kalkül des Physikers gemäß, wird er für wahnsinnig gehalten und in der Anstalt eingesperrt. Etliche Demaskierungen später stellt sich heraus, dass seine beiden Mitpatienten ebenfalls nicht verrückt sind, sondern von den Geheimdiensten feindlicher Machtblöcke auf ihn und die Weltformel angesetzt.

Im Unterschied zu den temporeichen, zuweilen schrill überdrehten Fassungen, in denen „Die Physiker“ andernorts zu sehen sind, stehen die Schauspieler bei Karaca erstaunlich viel herum. Der Regisseur wählt einen ruhigen Erzählfluss, drückt manchmal sogar bewusst auf die Slow-Motion-Taste. Daraus ergeben sich zuweilen Momente voller Poesie. So schickt er die drei Physiker in einen Scheinkampf auf eine Leiter, wo sie sich mal in Zeitlupe, mal in normalem Tempo boxen, bis Newton seinen symbolträchtigen Apfel fallen lässt. Der Mord, den Möbius an der Krankenschwester Monika Stettler begeht, sehen wir als langsames Schattenspiel: lautlos, aber gleichwohl makaber.

Der bedächtige Zugriff hat aber auch Kehrseiten. Wenn die Regie das Spiel Richtung Farce überziehen möchte, muss sie Albernheiten bemühen, wie das Beispiel der Krankenschwester Monika Stettler zeigt. Die wirbt erst im denkbar abgedroschensten Dreiklang um Möbius („Ich liebe dich! - Heirate mich! - Ich will ein Kind von dir!“), um kurz nach ihrer Ermordung als Zombie aus einer Bodenluke aufzutauchen und Edith Piafs „Je ne regrette rien“ zu schmettern. Es ist natürlich nicht verwerflich, Dürrenmatts starkem Text den Vorrang zu lassen. Aber wenn er etwas zu häufig an der Rampe aufgesagt wirkt, riecht das verdächtig schulklassenkompatibel.

Mit ihrem nachgerade psychedelischen Rautenmuster brennt sich die in kühlen Grüntönen dämmernde Bühne von Vincent Mesnaritsch tief ins Gedächtnis. Ineinander verschachtelte Rahmen sind schräg gegeneinander verrutscht: Das gesamte Setting ist im Wortsinne ver-rückt. Durch eine kreisrunde Öffnung, das Tor zur äußeren Welt, wird auf dem hinteren Prospekt ein Palmenwald à la Henri Rousseau sichtbar. Dieses Bullauge wechselt für das blutige Schattenspiel von Grün auf Rot. Während Physiker und Krankenschwestern in blasses Beige gekleidet sind, hebt sich das Fräulein Dr. h. c. Dr. med. von Zahnd im eleganten weinroten Kleid wie ein Ausrufezeichen von den kühlen Farbtönen der Kulisse ab. Die Beleuchtung von Björn Gerum trägt viel zu einer Atmosphäre bei, die trotz der nüchternen Helligkeit der Klinikräume auch ein geheimnisvolles Dunkel kennt.

Die Kostüme von Elke Gattinger heben die unterschiedlichen Charaktere der Physiker trotz der Anstaltskleidung liebevoll hervor. Der größte und wichtigste Part kommt dabei Jakob Immervoll zu, der den genialen Physiker Möbius zum traurigen, gehetzten, unerhörten Propheten erhebt. Vibrierend vor visionärer Hellsicht, unerbittlich in seiner moralischen Kompromisslosigkeit, spricht dieser Möbius von einer Wissenschaft, deren mögliche Auswirkungen das Fürchten lehrt. An der Seite dieser starken Hauptfigur werden Vincent Sauer (Einstein) und Mauricio Hölzemann (Newton) von der Regie ein wenig allein gelassen. Als traurige Verrückte steuern sie zwar manch köstlich skurrilen Auftritt bei, mutieren als Zuhörer von Möbius‘ Monologen aber zunehmend zu staunenden Statisten.

An Carolin Hartmann ist eine Diseuse verloren gegangen. Herrlich ihr Gespür für den großen Auftritt, für übersteigerten Facharzt- und Familiendünkel der Anstaltsleiterin, für das Moment der sprunghaften Unberechenbarkeit, das diese Figur bis in ein überraschendes Finale katapultiert. Überdies geht ihr dunkel timbrierter Gesang ausgesprochen angenehm ins Ohr. Pascal Fligg lädt das steife Pflichtbewusstsein des Kriminalinspektors Voß trefflich mit Komik auf. Luise Deborah Daberkow fällt als Monika Stettler absichtsvoll melodramatisch von der Rolle der gestrengen Krankenschwester in die einer leidenschaftlich liebenden Frau.

Der Besuch dieser Neuproduktion lohnt nicht nur der starken Bilder und der klugen Musikauswahl wegen, die von György Ligetis „Musica Ricercata“ über Beethovens „Kreutzer-Sonate“ und Rossinis Oper „La Cenerentola“ bis zu den genannten Chansons reicht. Er lohnt, weil Dürrenmatts Zweiakter Fragen nach einer Ethik in der Wissenschaft aufwirft, die nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben.