Wahnsinnstheater
Koproduktionen mit deutschen Häusern sind an der Opéra Royal de Wallonie rar. Desto erstaunlicher ist der Entschluss für I puritani mit der regietheaterfreudigen Frankfurter Oper zusammenzuarbeiten. Der Transfer aber vom Main an die Maas bekommt Bellinis letzter Oper aus einer ganzen Reihe von Gründen außerordentlich.
So begegnet auf der Bühne die Ruine eines historischen Theaterauditoriums mit Logen und Karyatiden beinahe als Pendant des Liègoiser Zuschauersaals aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dramaturgisch wie musikalisch erweist sich die Öffnung zahlreicher Striche als vorteilhaft. Zudem gewinnt die Produktion durch die beinahe komplette Neubesetzung aller Partien. Vor allem aber durch das mitreißende Dirigat der Orchesterchefin der Königlich Wallonischen Oper Speranza Scappucci.
Doch der Reihe nach. Vincent Boussard zeigt Bellini selbst als Regisseur und - in Gestalt Arturos - Protagonisten seiner zum schwarzromantischen Ruinenstück mutierten Oper. Hauptattraktion darin ist der detailliert studierte Wahnsinn Elviras, nach dem das aus einer dekadenten Großstadtschickeria bestehende Publikum giert. Boussard verwebt auf diese Weise die Opernhandlung mit der im 19. Jahrhundert in Mode kommenden Lüsternheit des „Juste milieu“ nach psychopathologischen Sensationen, die von Komponisten wie Bellini mit den Wahnsinnsszenen ihrer Opern als dramaturgischer Klimax reichlich bedient wurde.
Gesteigert wird der Nervenkitzel durch das von Johannes Leiacker auf die Bühne gewuchtete Auditorium mit seinen ramponierten Karyatiden und abgesprengten Logenbrüstungen.
Die Puritani-Personage steckt in Roben und Fräcken, die Christian Lacroix der Uraufführungszeit der Oper unter der Regierung König Louis Philippes nachempfunden hat. Zum Ereignis aber wird die Produktion allererst durch die Liègoiser Orchesterchefin Speranza Scappucci. Wie aus Schleusentoren fluten durch die zahlreich geöffneten Striche Romanzen und Cabalettas. Dafür, dass es zu keiner Inflation kommt, sorgt Scappuccis temporeiches, rhythmisch profiliertes das Drama unablässig vorantreibendes Dirigat. Das Orchester der Opèra Royal de Wallonie emanzipiert sich von seiner Begleitfunktion, die ihm Bellini zuschreibt, um sich in einen regelrechten Akteur zu verwandeln.
Lawrence Brownlee gibt Arturo seinen stupend stilsicheren Tenore di grazia mit auf den Weg. Völlig selbstverständlich steigt Brownlee auf der von Bellini gezogenen Linie melodischer Schönheit bis zum hohen f auf. Auch Zuzana Marková fügt als Elvira ihre Koloraturen und Triller nahtlos dem vokalen Fluss ihrer Partie ein. Mario Cassi gibt einen schlank-eleganten Riccardo. Luca Dall'Amico verleiht Giorgio nobel-profunde Seriosität.
Kurzportrait Speranza Scappucci
Anfang Juli wird sie mit La Bohème ihr Debüt an der Semperoper geben und dann hoffentlich auch in Deutschland zu einer festen Größe werden. Seit 2017 ist Speranza Scappucci Orchesterchefin an der Opéra Royal de Wallonie in Liège. Die gebürtige Römerin studierte an der heimatlichen Accademia di Santa Cecilia sowie an der New Yorker Julliard School. Erste Sporen verdiente sie sich als Korrepetitorin an der Wiener Staatsoper. Als gestandene Orchesterchefin kehrt sie immer wieder ins Haus am Ring zurück, etwa um dort L'elisir d'amore, Cenerentola und Bohème zu dirigieren. Zahlreich sind die Häuser von Weltrang, die auf die höchst dynamische und im dramatischen Zugriff unmittelbar packende Liègoiser Musikdirektorin nicht verzichten möchten. Ihr Aktionsradius reicht von der Los Angeles Opera über den Maggio Musicale in Florenz und das Rossini-Festival in Pesaro bis zum Petersburger Mariinski-Theater. An der Pariser Bastille-Oper dirigiert sie gegenwärtig Rigoletto.