Mythische Zwänge
Wenn Autoren Nebenfiguren einer literarischen Vorlage ins Zentrum ihrer eigenen Produktion rücken, fragt sich, ob die Chargen von einst über die dazu notwendige Substanz verfügen. Thomas Melle wertet Ortlieb, Etzels und Kriemhilds Söhnchen, das beim finalen Nibelungen-Gemetzel auf der Burg des Hunnenkönigs von Hagen enthauptet wird, zu einer Kernfigur seines neuen Stücks auf. Denn der Kleine mag sich mit dem ebenso frühen wie gewaltsamen Tod nicht abfinden. Aus dem Jenseits drängt er zu neuerlicher Geburt, weshalb auch seine burgundische Verwandtschaft samt Siegfried und Brünhild von den Toten aufsteht, um nach jenen Optionen des deutschen Erzmythos zu fahnden, die dessen versöhnlicheren Ausgang ermöglichen. So ringt denn Ortlieb darum, nicht als Hunnenprinz, sondern Sohn Siegfrieds das Licht der Welt zu erblicken, auf dass der Knabe seine Enthauptung abwende. Vergeblich. Nicht anders der mit Ortlieb im Bund stehende Spielmann, der darauf sinnt, den Lauf der Geschichte zu ändern, indem er Siegfried und Brünhild miteinander zu verkuppeln sucht. Final trachtet der kleine Hunnenprinz Hagen nach dem Leben, um dessen Mord an Siegfried und ferner das Rachewerk Kriemhilds zu verhindern. Doch verfängt auch das nicht. Wie immer die Weichen gestellt werden, die Nibelungen eilen auf verhängnisvollem Gleis dahin.
So sehr Thomas Melle gegen seinen Stoff arbeitet und sich an ihm erschöpft, so wenig gelingt ihm, sich jene Freiheit zu erringen, die erst den souveränen Umgang mit der epischen Vorlage erlaubt. Übrig bleibt eine beflissene Nacherzählung. Gewiss ist Ortlieb ein herziges Knäblein, um aber das Stück zu tragen, reichen seine Kleinkinderkräfte nicht hin. Der zwingende Stoff verliert sich in Niedlichkeiten. Selbst Hagen sinkt auf die Schwundstufe eines Dozenten für angewandten Machiavellismus an der örtlichen Volkshochschule.
Überwältigung steht zudem sprachlich auf schwachen Füßen. Das, obwohl Melle eine Fülle poetischer Mittel aufbietet. Anfangs tönt ein Chor wie in der griechischen Tragödie, später gibt Hagen Mephistophelisches von sich. Immerfort sprechen die Figuren in mitunter geglückten, doch meist erzwungenen Reimen. Für Kriemhild und Siegfried evoziert Melle müde ironisierte Romeo-und-Julia-Stimmung. Keine Frage, dichterische Kühnheit und lyrische Wagnisse stünden seinem Stück gut an, aber keiner der sprachlichen Kunstgriffe zündet den Funken ins Große. Zu einer „Sprechoper“, als die Melle - wie er im Programmheft ausführt - sein Werk beinahe begreifen möchte, fehlen denn doch über weite Strecken die rhythmische Verve und das sensibel ausgehörte Sprachmelos.
Regisseurin Lilja Rupprecht ringt dem Stück das Möglichste ab. Auffällig ihre Begabung für optisch sinnfällige vielfigurige Tableaus. Ganz im Gegensatz zu Melles Postulat von der „Sprechoper“ stattet Rupprecht die Produktion mit opernhaften Zügen aus, die dieser tatsächlich bekommen. Packend die Konfrontation auf Isenland mitten aus der lediglich erzählten Handlung heraus, wenn König Gunther alias Siegfried und die in weitest ausschwingendem kaltweißem Reifrock verharrende frostige Brünhild miteinander Zwiesprache halten.
Die Bühne von Anne Ehrlich schafft ein von weißem Textil überzogenes Gebirge samt Höhle. Eine nicht allein arktische Eiswüste, denn offenbar geht es nicht nur im hohen Norden frostig zu, sondern in der Welt überhaupt und bei weitem nicht zuletzt am Königshof der Burgunden in Worms.
Videokünstler Tilo Baumgärtel wirft krakenartige Gebilde über die Liebespaare, lässt eine Riesenschlange über die Bühne züngeln und bietet niedliche Giraffen und Füchse auf, ohne dass sich der Sinn des Unternehmens irgend erschlösse.
Annelies Vanlaere steckt Ortlieb in einen kindlichen Pyjama, Hagen kommt nur selten in Rüstung, dafür weit öfter in existentialistischem Schwarz daher, Siegfried glitzernd silberschuppig. Offen soll bleiben, ob der Held aus Niederland mit dem Drachen eins geworden ist, sich unter dem Tarnhelm befindet oder den Nibelungenhort am Leib trägt.
Regie und Kostüme machen Effekt, was aber die Produktion substantiell rettet, ist Schauspielkunst. Allen voran veredelt Klaus Maria Brandauers Hagen noch die abgegriffenste Sentenz des an meist banalen Sinnsprüchen nicht armen Stücks. Brandauers Sinn für Rhythmus, Dynamik und Klangfarben von Sprache verleihen dem Text ein Gewicht, das er eigentlich nicht besitzt. Alexander Simon gibt einen unheroischen, dennoch präsenten Siegfried. Kathleen Morgeneyer ist eine Kriemhild, die selbst in bedrängendsten Konfliktlagen ihr Anmutig-Mädchenhaftes bewahrt. Inga Busch weckt Sympathien für die eisumgürtete Königin Brünhild. Moritz Grove ist ein virtuos schwächelnder Gunther. Lisa Hrdina berührt mit ihrem herzigen Ortlieb. Boris Aljinovic profiliert vokal eindringlich Gernot.