Wenn der Täter zum Richter wird
Zur neuen Spielzeit eröffnet das Thalia Theater Hamburg mit einem Politthriller. Die Regisseurin Jette Steckel bearbeitet den 800-Seiten-Roman ihrer Freundin Nino Haratischwili und bringt ihn als fast vierstündige Adaption auf die Bühne.
Zunächst trennt der Eiserne Vorhang den Bühnenraum hermetisch ab. Ein Mann mit silberglänzender Pistole - wie aus einem klassischen Western - tritt vor und gibt ein paar Hinweise auf Ort und Zeit der Handlung. Es ist der deutsche Journalist Onno Bender (Andre Szymanski), der sich bei seiner Recherche um die dunkle Vergangenheit des Oligarchen Alexander Orlow, genannt „Der General“ (Jirka Zett), selbst ins Geschehen verstrickt. Heute Abend aber wird er als Beobachter und Kommentator auftreten und mit dickem Pinsel in weißer Farbe auf dunkle Wände Ort und Zeit der Handlungs-Bruchstücke markieren, damit der Zuschauer die Orientierung nicht völlig verliert. Denn die Geschichte pendelt zwischen Berlin, Moskau, der Argun-Schlucht in Tschetschenien, Marrakesch und Grosny und springt durch die Zeiten von den Tschetschenien-Kriegen der 1990er Jahre bis in die Community georgischer Migranten im heutigen Berlin.
Es geht im Handlungskern um eine auf wahre Begebenheiten beruhende Gräueltat, um ein im ersten Tschetschenien-Krieg verübtes Kriegsverbrechen, um die Suche nach der vertuschten und geleugneten Wahrheit: um späte Sühne für verdrängte Schuld.
Als sich die Trennwand hebt, bleibt alles trübe, verschwommen, nur schemenhaft bewegt sich etwas im Dunst. Doch dann dröhnt Techno auf, ein Flugzeug rast schattenhaft über den Vordergrund: erst jetzt wird die Gazewand vor dem Bühnenraum erkennbar, die sich optisch mit den Schwaden dahinter zu undurchdringlichem Nebel verbindet. Ein eindrucksvolles Bild für die bedrohliche Ausgangssituation, die im Roman weit weniger stimmig von Haratischwilli in ziemlich verrutschten Bildern gezeichnet wird. Da spricht sie von glühenden Knochen, die durch blendendes Weiß scheinen, vom Nebel, der als endloses Maul alles verschluckt oder dicht wie eine Pelzstola umhüllt sowie in den Armen wiegt.
Genial schafft Florian Lösche einen Bühnenraum in Schwarz-Weiß-Ästhetik, in dem immer wieder neue Formen entstehen und verschwinden, Kammern, Trennwände und Säulen von oben herabgelassen werden, als Projektions- oder Schreibfläche dienen oder ganz einfach ein optisches Bild der verwinkelten, verworrenen Geschichte wiedergeben.
Aus der Düsternis tritt die wunderbare Lisa Hagmeister als Bauernmädchen Nura Gelajewa in bodenlangem Kleid heraus und streichelt liebevoll ein lebendiges, weißes Huhn auf ihrem Arm, während sie von ihren Träumen, Sehnsüchten und waghalsigen Plänen berichtet. Aber auch von ihrer Lehrerin und Freundin, der Journalistin Natalia Iwanowna (übrigens namensgleich mit der russischen Revolutionärin und Ehefrau von Leo Trotzki). Die Bühnenfassung gibt dieser geheimnisvollen Fremden eine stärkere Rolle als Investigativ Journalistin als die Romanvorlage. Zu ihrer Recherche werden Videos der 2006 ermordeten Anna Politkowskaja eingeblendet sowie authentische Nachrichtenfetzen und Bilder Putins, der den Tod der Reporterin bagatellisierte.
Nachdem es mit Mofa und echten Fahrrädern vorübergehend recht turbulent auf der Bühne zugeht, folgt die fast surreal verfremdete Vergewaltigungsszene der 18-jährigen Nura durch vier russische Soldaten: auf der Gazewand erscheint das vergrößerte, von oben aufgenommene Bild der Livecam, während dahinter die Männer das Mädchen auf ihren Rücken hieven und sich wie lebende Kreisel gespenstisch drehen. Ergreifend, schockierend.
Der zweite Teil folgt den Vergeltungsplänen des Soldaten Alexander Orlow, der inzwischen vom Muttersöhnchen und Küchenjungen zum mächtigen Oligarchen avancierte (was weder im Roman noch im Drama plausibel wird). Er, der bei seinem Aufstieg über Leichen ging, heuert jetzt, zwanzig Jahre nach der Tat, eine „Doppelgängerin“ des Vergewaltigungsopfers an, um mit Hilfe der Schauspielerin Sesili, genannt Die Katze (gleichfalls überzeugend gegeben von Lisa Hagmeister), die Mittäter des Verbrechens zur Rechenschaft zu ziehen. Er inszeniert ein undurchsichtiges Spiel, dessen Regeln und Ziel selbst die Beteiligten nicht kennen. Dabei wird die Atmosphäre der Angst und Bedrohung, die der Roman um den dubiosen, allmächtigen sogenannten General und seinen zwielichtigen Adlatus Schapiro (exzellent schmierig gegeben von Barbara Nüsse) aufbaut und durchhält, auf der Bühne nicht erreicht. Jirka Zett gibt den Oligarchen eher nachdenklich als unheimlich und so ist es nur folgerichtig, dass die Schlussszene des Romans, die die Betroffenen zum Russischen Roulette in einen hermetisch abgeschlossenen, von Bewaffneten bewachten Raum zwingt, schlicht gestrichen ist. Die finale Abrechnung bleibt aus. Stattdessen bietet das Schlussbild eine Kahnfahrt im grünlich-weißen Nebel, bei der Der General der Schauspielerin und uns gesteht, selbst Nuras Mörder zu sein. Kitsch.
Während die Bühnenfassung schiefe Bilder und Klischees, die im Roman stören, vermeidet, kann sie den Spannungsbogen der Vorlage nicht herstellen. Auch wird in der aufs Wesentliche reduzierten Story die intellektuelle Schwäche des Grundkonzepts eher sichtbar. Trotz der fantastischen schauspielerischen Leistungen kann es kein großer Theaterabend werden, ihm fehlt die Wucht der Geschichte. Vielleicht waren auch die Erwartungen zu hoch gehängt, nachdem das Team Haratischwili/Steckel vor zwei Jahren Das achte Leben (Für Brilka) so kraftvoll, bildmächtig auf die Bühne brachte.
Das Premieren-Publikum applaudierte für eindrucksvolle Bilder und tolle Schauspielerinnen-Leistungen. Viele Zuschauer waren allerdings schon in der Pause gegangen.