Wo Rettungsoper und Singspiel sich die Waage halten
Das Theater Ulm nimmt den fünfzigstenJahrestag der Eröffnung des Theaterneubaus und im Vorgriff Beethovens 200. Todestag zum Anlass einer Fidelio-Neuproduktion. Das vom heimischen Architekten Fritz Schäfer über einem Grundriss aus ineinander verschachtelten Sechsecken errichtete Ulmer Haus überzeugt gleichermaßen durch das strahlende Weiß seines skulpturalen Äußeren wie die sorgsam erwogene Lenkung der Besucherströme durch die Foyers ins großzügige Auditorium mit seinem elegant dort eingehängten Rang.
Für die Jubiläumsproduktion wurde Dietrich W. Hilsdorf gewonnen, der vor Jahrzehnten selbst Oberspielleiter in Ulm war. Der einstige Bürgerschreck geht an der Donau geradezu altmeisterlich zu Werk. Ganz offensichtlich kommt ihm die Ulmer Mischvariante des Fidelio entgegen. Denn die Einfügung des Terzetts „Ein Mann ist bald genommen“ und eines Duetts Marzellines mit Leonore aus der Urfassung in die gängige Version aus dem Jahr 1814 verstärkt den Singspielton, um den Biedermeieranteilen gegenüber denen der Rettungsoper erweiterte Geltung zu verschaffen. Auf gesprochene Dialoge verzichten die Ulmer. Das Werk scheint durch die Verschiebung der Proportionen nun aus beinahe einem Guss. Hilsdorfs Spielleitung ist es nicht minder, lässt sie doch die aufgewerteten Lustspielfiguren sich trefflich bewähren. Jaquino rückt der angebeteten Marzelline ebenso heftig auf den Leib wie diese der Leonore. Bei Leonores Demaskierung erschrickt das Kerkermeisterstochter weniger davor, sich in eine Frau verliebt zu haben, als dem Objekt heftiger Begierde entsagen zu müssen. Alle weiteren Figuren portraitiert Hilsdorf souverän aber ohne sonderliche Prätentionen an Text und Musik entlang. Der Mann versteht schlicht seine Kunst.
Bessere Zeiten gesehen hat der weitläufige Saal, den Dieter Richter auf die Bühne stellt. Längst schälen sich die kostbaren Tapeten von den Wänden. Feucht und fleckig ist der Putz. Abgenutzt kleinbürgerliches Mobiliar sorgt samt obligatorischem Loriotsofa für ein wenig Behaglichkeit. Die Kerkergruft liegt unter dem Saal verborgen. Ein Kellerabgang führt zu ihr hinab.
Kostümlich herrscht bei Bettina Munzer cum grano salis die Entstehungszeit des Fidelio vor. Die Allongeperücke kennzeichnet Pizarro als Vertreter des Ancien Régime. Weshalb aber Florestan ein Frauenkleid trägt, mag mit der spiegelbildlichen Travestie Leonores zusammenhängen. Oder suchte der Gejagte seinen Häschern darin verkleidet zu entrinnen?
Musikalisch nimmt der Ulmer Fidelio bedingt für sich ein. Der von Hendrik Haas einstudierte Opernchor und Extrachor des Theaters Ulm bewältigt die intonatorischen und rhythmischen Vertracktheiten seiner Partie achtbar. Mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm übertreibt Michael Weiger die Beethovenschen Extreme von Rhythmik, Tempo und Dynamik vor allem während der nicht - wie vielerorts üblich - als Zwischenspiel ertönenden, sondern der Oper tatsächlich einmal vorangestellten dritten Leonorenouvertüre ins Bizarre und beinahe Karikaturhafte. Mit historisch informierter Spielweise und Weigers Erfahrung auf dem Gebiet der Alten Musik lässt sich solche Groteske nicht rechtfertigen. Zudem fehlen Präzision und Transparenz.
Susanne Serfling ist eine ebenso erfahrene wie versierte Leonore. Der Florestan von Markus Francke verfügt über wenig Farbe und lässt intonatorische Wünsche offen. Für Rocco ist Erik Rousi erstaunlich hell timbriert. Dae-Hee Shin portraitiert Pizarro rollendeckend. Maria Rosendorfsky verleiht Marzelline zugleich die Leichtigkeit des Singspiels und sinnliche Zudringlichkeit gegenüber Leonore. Der Spieltenor von Luke Sinclair lässt bereits lyrisches Potential ahnen.