Radikaler Zugriff aufs Ich
Wer ist hier eigentlich krank? Der Patient? Der Psychiater? Oder gleich wir alle, die Gesellschaft? Vieles spricht dafür, dass Letzteres der Fall ist.
Die Burn-Out-Raten sprießen in die Höhe, mit Mitte Zwanzig haben viele Bürgerinnen und Bürger die erste Psychotherapie hinter sich und ansonsten helfen Venlafaxin oder Tavor, Ängste, Zweifel und Verstimmungen in den Griff zu kriegen. Krank sein ist normal, sich gesund fühlen hingegen die Ausnahme. Kein Wunder also, dass Autorin Sarah Kane auf die Idee kam, sich dieses Zeitgeist-Themas anzunehmen: Aktuell ist 4.48 Psychose am Deutschen Theater zu sehen.
Sarah Kane starb 1999 in London und war eine der „radikalsten Vertreterinnen unter den modernen britischen Dramatikern und Regisseuren“, so jedenfalls Wikipedia zu der Autorin, die während ihres künstlerischen Schaffens fünf Stücke schrieb; Psychose ist ihr Letztes, und wer nun ins Deutsche Theater geht, wird sicherlich zu dem Schluss kommen, dass der Wikipedia-Eintrag nicht zu tief gegriffen ist. Der Theaterformalist Ulrich Rasche nimmt den Text als Folie, um seine Interpretation vom radikalen, modernen Theater auf die Bühne zu bringen. Da kommt zusammen, was zusammengehört.
Ein starkes Eröffnungsbild, das Ulrich Rasche zusammen mit Franz Dittrich kreiert: Rechts und links zwei Neonröhren, ansonsten nicht viel oder besser gesagt gar nichts. Es wirken Text- und Klangkomposition (Nico van Wersch). Und dann geht es los: Knapp drei Stunden geht das Monologisieren, das Drehen ums Thema ohne definierte Figuren, ohne Hier und Jetzt. Überraschend gut funktioniert das. Die dichte Mischung zwischen massiven Klangräumen und der Pointierung des Textes durch die sprachliche Gestaltung der Schauspielerinnen und Schauspieler (Elias Arens, Katja Bürkle, Thorsten Hierse, Toni Jessen, Jürgen Lehmann, Kathleen Morgeneyer, Justus Pfankuch, Linda Pöppel, Yannik Stöbener) erzeugt einen intensiven Eindruck. Es ist ein einerseits bedrückendes, anderseits auch seltsam heiteres Szenario, das einem den Blick aufs eigene Ich aufdrückt. Denn die Figuren, ohne eigenen Kern, spiegeln uns die ganze Verletzlichkeit und emotionale Spannbreite menschlichen Seins.
Kane schrieb den Text kurz vor ihrem Suizid mit nur 28 Jahren. Denkt man diesen tragischen Umstand mit, kann ein Abend am Deutschen Theater mit Kane und Rasche sicherlich mehr sein als ein radikaler Zugriff auf Schauspiel und Theater, sondern ein ganz intimer Einblick in das Seelenleben eines mit sich selbst und seinen Gefühlen ringenden Menschen.