Letztes Hemd ohne Taschen
Am selben Tag, als zu lesen war, der Vorstand der Deutschen Bank streiche trotz Milliardenverlusten des Hauses Boni ein, rafft im Frankfurter Schauspiel Ferdinand Schmalzens reichen Mann die glatzköpfige Tödin aus der Hochsicherheits- und Komfortzone seines ganz und gar künstlichen Paradieses hin. Keine Frage, die vor zwei Jahren am Burgtheater aus der Taufe gehobene und nun in der Mainmetropole zur deutschen Erstaufführung gelangende Überschreibung des Hofmannsthalschen Mysterienspiels passt in die Nachbarschaft der unweit des Frankfurter Schauspielhauses gelegenen Konzernzentrale des einst renommierten Instituts.
Vorzug des Stücks ist die Präsentation der Titelfigur als gemischter Charakter. Zwar schimmert die Heuschrecke immerfort durch. Wenn aber Jedermann sich ans Leben krallt und die Furcht vor dem Tod ihn packt, dann geschieht die nachvollziehbare Metamorphose zurück in den Menschen. Die übrigen Figuren, sei es die Mutter, seien es Personifikationen wie der Mammon oder Die guten Werke deutet Schmalz offenbar als Projektionen, wie sie auch in der säkularisierten Welt von Sterbenden imaginiert werden. Gott und Teufel hingegen sind zu bloßen halbwegs amüsanten Spielfiguren gesunken.
Freilich zieht sich Schmalzens Stück arg hin. Schon deshalb reicht es nicht an die sich Jahr für Jahr in Salzburg abnutzende, dennoch halbwegs intakte Vorlage. An Kraft und Eleganz des fürs Großformat unbedingt tauglichen Hofmannsthalschen Idioms gebricht es der Überschreibung mit ihren müde kalauernden Assoziationsketten und ebenso uferlosen wie matten Amplifikationen. Über weite Strecken schwätzt Schmalz daher.
Dennoch erwirbt die Produktion Meriten. Jürgen Bosse kräftigt des Stückes Kontur und stimmt Tonart und Valeurs nuanciert aufeinander ab. Bosse nimmt das Sterben ernst. Und leistet damit, was unter den säkularen Vorzeichen einer Welt ohne finalen Richter einerseits und religiösen Trost im Sterben auf der anderen Seite nur immer möglich ist. Wiederholt gibt er der Überschreibung den notwendigen kräftigen Schub, so wenn er Die guten Werke ihre unbestreitbaren, doch banalen Wahrheiten zum zeitgenössischen Charityunwesen vom Flugwerk herab verkünden heißt.
Zum Tod hin schwinden die Sicherheiten, Barrieren bieten nicht länger Schutz, allenfalls mutieren sie zu jenem elegant geschwungenen Gestänge, mit dem Stéphane Laimé die Spielfläche einhegt. Diese gibt sich als pastellfarbene Wohlfühlzone mit Teich, Freitreppe aus Halbkugeln und zahlreichen Ballons, deren haptisch nachgiebige Oberfläche zu einer Atmosphäre beitragen, die Entspannung verspricht. Zwanglos ergeht sich dort Jedermann meist in Unterwäsche aus Feinripp. Lediglich mit einem Strassgürtel um die Hüften deutet Kathrin Plath seinen Status an. Zwischendurch zeigt die Titelfigur sich nicht anders denn der liebe Gott festlich in antikisch Togaartiges gehüllt. Der barhäuptigen Tödin billigt Plath Kleines Schwarzes und Pumps zu.
Wolfram Koch erschöpft den Schmalzschen Jedermann bis zur Neige. Weil der Figur aber das wirklich Existentielle fehlt, gelangt selbst Koch an seine Grenzen. Desto eindringlicher die Tödin von Mechthild Großmann. Den überlangen Schlussmonolog, der poetisch einfallsarm einen Totentanz heraufbeschwören möchte, orgelt Großmann im Piano und höchstens einmal Mezzoforte enorm durchschlagskräftig in den Saal. Die Guten Werke gibt Katharina Bach mit losem Mund- und bravourös circensischen Verrenkungen im Flugwerk. Peter Schröder ist ein liebenswerter Gott auf der Schwundstufe.