Die Selbstermächtigung eines Guerilleros
Ja, es ist ein blutiges Drama. Eines der größten der Dramengeschichte, aber Christopher Rüping richtet es in der Kammer 2, der kleinen Spielstätte der Münchner Kammerspiele, an. Dort erkennt man den Bühnenboden besser, der vor allem aus einem Gitternetz in einem abweisenden, nackten Raum besteht. Befinden wir uns in einer Folterzelle? In einem Gefängnishof? - Wir erinnern uns: „Dänemark ist ein Gefängnis“, behauptet Hamlet im Gespräch mit Rosenkranz und Güldenstern. Und Rosenkranz entgegnet: „So ist die Welt auch eins.“
Vor allem ist sie ein Schlachthaus. Bluteimer werden ausgeschüttet, endlos, Eimer um Eimer, begleitet von einem dröhnenden Soundtrack. Auf einer Schriftleiste leuchtet der Name „Osrick“ auf - und wird durchgestrichen. „Ein Edelmann“ - durchgestrichen. Doch es sind nicht nur die Figuren, die nicht vorkommen in Rüpings nur zwei Stunden kurzer Inszenierung, sondern auch die, die ihr Leben lassen werden. Also alle: „Polonius“ - durchgestrichen. „Gertrud“ - durchgestrichen. Eimer um Eimer wird herangekarrt. Katja Bürkle nimmt einen davon und übergießt sich selbst mit Blut. Aus einer Art Laubbläser wird Konfetti auf die Bühne gepustet, das sich mit dem Blut zu einer ekligen Masse verbindet. Ja, es ist ein blutiges Drama. Wer trägt eigentlich die Schuld an diesem Blutvergießen?
Hamlet sei ein Fanatiker, hatte Regisseur Christopher Rüping vor der Premiere gesagt. Er sei kein Opfer, sondern Täter. Ein Zaudernder ist er jedenfalls nicht. „Ich bin Hamlet“, sagt Nils Kahnwald und zitiert Heiner Müllers Hamletmaschine. Auch bei Müller haben wir es mit einem Radikalen zu tun, und zwar in einem der radikalsten Müller-Texte, die es gibt. Also geht es los mit: „Ich bin Hamlet.“ Alle anderen sind im Moment gerade Horatio. Irgendwann werden alle auch mal Hamlet sein. Schnell begreifen wir: Wer den schwarzen Hoodie trägt, ist Hamlet. Manchmal tragen ihn auch alle vier - nicht nur die drei Schauspieler, auf die Rüping das Drama verkürzt hat, sondern auch Christoph Hart, der Musiker. „Ein Schlachthaus ist der Ort, den ihr hier seht“, sagt Hamlet. Und zur Laute beginnt eine Erzählung, in Prosa, aber gesprochen in geradezu lyrischem Tonfall: „Am Anfang war der Krieg der Väter.“ Erzählt wird die Schöpfungsgeschichte des grausamen Tötens. Jahrhunderte dauert der Krieg zwischen Dänemark und Norwegen schon. Die Männer sind gleichgültig geworden, die Frauen auch. Gleichgültigkeit hat sich auch des Wählervolks bemächtigt, falls es denn sowas damals schon gab. „Es war nicht gut, und wird auch niemals gut.“ - Nun, wir haben schon ganz unterschiedliche politische Interpretationen von Hamlet erlebt: Wenn Fortinbras am Ende die Macht übernimmt, kann das Erlösung, aber auch Unterdrückung bedeuten.
Langsam steigen wir in die Hamlet-Geschichte ein. Die Handlung wird berichtet wie bei einer Roman-Adaption fürs Theater: Spielszenen sind gemischt mit einer nacherzählenden, im Vergleich zum Shakespeare-Original nicht nur stark gekürzten, sondern auch neu montierten Zusammenfassung des Plots. Die Schauspieler berichten ex post: Eigentlich sind alle schon tot. Es dauert, bis die Aufführung ihren Rhythmus findet, bis sie den Zuschauer packt. Sie beginnt fast konventionell mit der Erscheinung des Geists von Hamlets Vater. Katja Bürkle im Hoodie ist der Dänenprinz, und wenn sie die Sätze des Geists spricht, zieht sie sich ein blutiges Betttuch über. Walter Hess tritt als Polonius mit einer maximal lächerlichen Perücke auf - und chargiert dann nach allen Regeln der Kunst. Elend lang gerät die Szene, in der die Schauspieler „Die Mausefalle“ aufführen. Bürkle und Hess lesen den Text von der Leuchtleiste ab, moderiert und dirigiert von Hamlet, der diesmal durch Nils Kahnwald gespielt wird - eine witzige Idee, aber so lange wie sie ausgewalzt wird, gerät die Szene denn doch eher öde und langatmig.
Ja, der Humor dieser Aufführung ist manchmal ein wenig platt. Rüpings Inszenierung ist unterhaltsam, aber nicht wegen ihres Humors. Als Splatter Movie ist sie großartig, hat hinreißende, auch schockierende Szenen. Aber die Aufführung hat viel mehr zu bieten als Blut und Splatter. Gefangen nimmt sie aufgrund der Interpretation der Titelfigur, aufgrund der Wut und der Kraft eines Radikalen, der bisweilen die Züge eines Terroristen hat. „Die Zeit ist aus den Fugen, und es ist an mir, sie wieder einzurenken“, ruft Bürkle als Hamlet. Nicht nach alter Schlegel-Tieck’scher Art: „weh mir, dass ich geboren ward, sie wieder einzurenken“ - nein, die Aufgabe, die Welt neu einzurichten (Verzeihung: einzurenken) ist eine Selbstermächtigung Hamlets. Wenn Bürkle den berühmten Satz spricht, wirkt sie wie ein Guerillero. Hamlet hat Freude an der Quälerei anderer: Kaum auszuhalten - und erneut exzessiv lang, aber diesmal bewusst auch für das Publikum quälend - ist die Szene, als Bürkles Hamlet die arme Ophelia beschimpft: Dies ist nicht vorgebliche Verrücktheit, die Hamlet an der jungen Frau auslässt, dies ist Brutalität bis hin zum Sadismus. Angesichts solcher Erniedrigungen wird nachvollziehbar, warum sich Ophelia - großartig Nils Kahnwald im langen Kleid mit Opferlamm-Blick - nach der Begegnung mit ihrem vermeintlichen Bräutigam das Leben nimmt.
Die Erzählung von Ophelias Tod gerät überraschenderweise recht poetisch. Ohnehin überzeugt der zweite Teil der Inszenierung - bei aller zwanghaften Originalität, die Puristen ihr vorwerfen mögen - durch große Eindringlichkeit, Witz und Stringenz. Plötzlich geht alles schnell. Die Szenenfolgen und -anweisungen werden auf der Leuchtleiste angezeigt und unverzüglich ausgeführt: Tod des Polonius? - Hess kriegt einen Eimer ins Gesicht geschüttet, sein Name wird auf der Schriftleiste durchgestrichen - fertig. Die Todesfälle werden mit ähnlicher Lakonie und Unerbittlichkeit abgewickelt wie weiland bei Ivo van Hoves „Romeinse Tragedies“ (Rezension siehe hier). Und dann … gibt es da ja noch diesen berühmten „Sein oder Nichtsein“ Monolog, den ultimativen Beweis dafür, dass Hamlet eben doch ein Zauderer und Zögerer ist. Katja Bürkle lehnt ihn ab. Aufgefordert von der Regie der Lichtleiste, dieses Dokument des Zauderns zu sprechen, zieht sie den Hamlet-Hoodie über - und geht ab. Der Musiker macht’s: Vom Band spielt Christoph Hart diverse Interpretationen des Monologs aus den verschiedensten alten Hamlet-Inszenierungen ein, wunderbar gemixt, manchmal mit Hall unterlegt. Hinein montiert in den Monolog ist der Tod von Rosenkranz und Güldenstern in England. In Vorbereitung des blutigen Finales schleppen die Schauspieler minutenlang Bluteimer auf die Bühne. Und immer noch und immer wieder leuchten auf der Schriftleiste die Buchstaben auf: „SEIN ODER NICHTSEIN“.
So wird der Kern-Monolog des Dramas, den Bürkles Hamlet abgelehnt hatte, doch noch zum entscheidenden Motiv der Aufführung, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang als von Shakespeare vorgesehen. In Dänemark aber herrschen Endzeitstimmung und Resignation. Ganz still, ganz traurig geht die Welt von Helsingør zugrunde. „Weiter, weiter“, heißt es. Doch der Rest ist Schweigen.