Wo Liebe und Existenzialismus sprossen
Dank Lüftungsanlage auf technisch neuestem Stand dürfen sich im 1000 Plätze fassenden Haus immerhin 600 maskierte Besucher anlässlich der Eröffnungsproduktion zum 200jährigen Jubiläum der Königlich Wallonischen Oper einfinden. La Bohème kommt der ausgeprägten Italianità des Hauses ebenso entgegen wie - mit dem Schauplatz Paris - dessen engen Bindungen nach Frankreich.
In Liège sind die Bohémiens - als Überlebende des letzten Weltkriegs - lebenserfahrener als üblich. Was ihnen lange verwehrt wurde, vermögen sie nach Befreiung der Seine-Metropole nun endlich auszuleben, ihre Jugend. Hausherr und Regisseur Stefano Mazzonis di Pralafera situiert die vier Freunde im frühen Nachkriegsparis als Angehörige einer Generation, aus der die Existenzialisten hervorgehen werden. Wie aber diese für ihre Jahre reifen Kerle bisweilen von ihrer verdrängten Kindlichkeit, ja vom Kindischen und Schabernack eingeholt werden, dringt ins Gemüt. Hingegen bewähren sich Liebe und Mitempfinden der Figuren, ohne je ins Sentimentale abzudriften. Um bloßer Gefühligkeit zu erliegen, mussten sich die jungen Leute während des Kriegs allzu sehr im Griff halten.
Carlo Sala stellt enge wie alten Schwarz-Weiß-Postkarten entnommene Pariser Häuserzeilen auf die Bühne. Grautöne spielen ineinander. Existenzialistisches Schwarz kündigt sich an. Dem Atelier der Bohèmiens ist die zusätzliche Spielfläche einer Terrasse vorgebaut. Wenn die vier Freunde darauf agieren, scheint sie der Winter nicht zu stören, der Krieg war schlimmer.
Für Mimi erübrigt Fernand Ruiz die schlicht geschnittenen Kleider der 40er Jahre. Die Herren tragen eigene oder fremde Anzüge auf. Musetta zielt auf mondäne Wirkung.
Auch die musikalische Seite des Abends überzeugt. Den hinter den Kulissen singenden Chor der Liégoiser Oper inspiriert Denis Segond zu Verve und zugleich kultiviertem Klang.
Das Orchester des Hauses bedient sich der von Gerardo Colella herausgegebenen und den Klangkörper auf ungefähre Mozartstärke reduzierenden Fassung. Was an Opulenz fehlt, das machen die Musikerinnen und Musiker mit Frédéric Chaslin am Pult durch Transparenz, Empfindungsinnigkeit und oft seidige Anmutung wett.
Angela Gheorghiu ist eine vokal jugendliche Mimi voll emotionaler Tiefe und den Charakter ihrer Figur auch stimmlich beglaubigender Gediegenheit. Beinahe ebenso vermag der Rodolfo von Stefan Pop zu berühren. Wenn Pop seine Figur sanglich von anfänglicher Nervosität gegenüber Mimi in die Gewissheiten eines Liebenden wachsen lässt, geht das unter die Haut. Maria Rey-Joly legt ihrer Musetta stimmliches Parfum auf, das seine Wirkung nicht verfehlt. Ionut Pascu verkörpert einen baritonal raumgreifenden Marcello. Kamil Ben Hsaïn Lachiri gibt einen rollenadäquaten Schaunard. Ugo Guagliardo ist ein etwas farbloser Colline.
Kein Zweifel, diese Bohème verheißt für die kommenden Produktionen der Liégoiser Jubiläumsspielzeit viel Gutes.