Soziologie mit dramaturgischer Anschlussfähigkeit
Der Mensch, der Mensch. Wer ist er eigentlich? Was ist er wert? Warum ist er so, wie er ist - und nicht anders? Fragen, die die moderne Wissenschaft der Soziologie aufwarf und mit immer neuen und oft auch alten Formeln versucht zu beantworten. Der Franzose Didier Eribon, Soziologe und Gesellschaftsphilosoph, 1953 in Reims geboren, hat sich in seinem Werk Rückkehr nach Reims in Bestsellerauflage an sich selbst und seinem sozialen Milieu, aus dem er stammt - Arbeiterklasse - abgearbeitet. 2016 kam das Buch auf den Markt, wurde in den Feuilletons hoch und runter thematisiert und an unzähligen Theaterhäusern mit vielfältigen Zugriffen aufgeführt.
Nun also die Berliner Schaubühne, die Eribons Gedanken zur sozialen Schichtung, Milieukomplex, rechts gegen links, Privilegien und Klassenkampf inszeniert, und - so stellt‘s ich im Laufe des Abends heraus - mit Zeitgeist-Reflexion und aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen und Problemen gekonnt seziert. Die Szenerie ist schlicht: Ein Tonstudio, in dem eine Sprecherin (Isabelle Redfern) am Mikro sitzt, der Filmemacher und Tonstudiobesitzer (Christian Tschirner, Amewu Nove) sind hinter einer Glasscheibe platziert - im Hintergrund laufen zusammengeschnittene Szenen ab, die „Isabelle“ textlich einspricht: Zeilen aus Eribons Rückkehr nach Reims. Es geht um Herkunft und Herrschaft, um ein Frankreich der krassen Gegensätze, um die kleine Existenz Eribons' Vaters, der Fremdheit zwischen Vater und Sohn, denn Eribon ist Homosexueller, etwas, was der Vater zutiefst ablehnt. Das ewige Kreisen um sich selbst und gesellschaftliche Umstände Eribons hat etwas Manisches, etwas Suchendes. Die Mutter ist Putzfrau, der Vater Fabrikarbeiter, der Sohn Intellektueller und plötzlich im Fernsehen. Und der Vater ist dann doch stolz, auf ihn, den Schwulen.
Doch eigentlich wird es an diesem Abend nicht nur um den Suchenden Eribon gehen, sondern um das, was sein Text bei anderen auszulösen vermag und an eigenen Verletzungen, die aus dem Familiären und Gesellschaftlichem stammen, an die Oberfläche bringt. Das ist in sich stimmig und überaus intelligent gemacht von Regisseur Thomas Ostermeier.
Zunächst entbrennt ein Streit zwischen Sprecherin und Filmschaffenden. Das ist witzig und treffend, wenn sich „Frau“ herausnimmt, „Mann“ in seiner Arbeit zu kritisieren. „Isabelle“ hat konkrete Anregungen, wie der Film, dem sie ja eigentlich nur ihre Stimme leihen soll, verbessert werden könnte: Aufbau, Stringenz, einiges, wo sie anderer Meinung ist, und Tschirner sucht souverän zu bleiben, was nicht ganz gelingt. Die Dialoge sind dicht, taff und originell, und vor allem das natürliche, aber total präzise Spiel der Schauspieler überzeugt.
Da fallen dann Begriffe wie „Mansplaining“, also Männer, die sich als genereller Fachexperte sehen und sich damit - bevorzugt - über Frauen stellen, ihnen die Welt erklären. In diese Ecke will sich der moderne, weiße und noch nicht ganz so alte Mann nicht stellen lassen, und die Entschuldigung für den Streit unter Kollegen folgt. Ostermeier schafft es, die Dreierkonstellation geschickt zu verflechten und die Charaktere nach und nach herauszuarbeiten.
Der Tonstudiobesitzer - Amewu Nove - entpuppt sich als talentierter Rapper, textlich mit gesellschaftspolitischem Anspruch. Da gibt es zu recht Zwischenapplaus. Dass er als Kind sich gegen das „N-Wort“ (Neger) wehren musste, macht dem erwachsenen Mann immer noch spürbar zu schaffen. Und auch Redfern ist nicht Tochter eines Schweizers und einer Karibianerin, sondern ihr Vater stammt aus den Südstaaten, ist Schwarzer. Es mache einen Unterschied, ob Mutter oder Vater eines „Mischlings“ schwarz seien, gibt diese preis. Bei einem weißen Vater gingen die Mitmenschen automatisch davon aus, der Vater sei Diplomat gewesen und habe sich im Ausland in eine Frau verliebt. Eine andere gesellschaftliche Bewertung. Dabei kommt auch latenter Rassismus in der Kultur- und Kunstszene zur Sprache. Sicherlich mit richtigen Argumenten, wie dass Asiatinnen und farbige Frauen in Deutschland so gut wie nie Hauptrollen spielen oder nur entsprechend eines „optischen Schemas“ besetzt werden. Hier fließt viel Persönliches der Schauspieler*innen ein.
Und so ist Reims auf einmal ganz nah und zeigt uns auf, was wir in unserer kleinen, heilen deutschen (Theater-)Welt ändern könnten - oder vielleicht sollten!