Der Friedensengel im Kulturbühne Reichshof Bayreuth

Friedens-Utopia contra „Hass allwärts“

Siegfried Wagner hatte keinen leichten Weg, das gilt für seine Werke noch weit mehr als für sein persönliches Lebensglück. Dabei trifft ihn zugleich das Schicksal des „Frühvollendeten“, mithin also jener Denker- und Schöpfer*innen, denen gleich zu Beginn ihrer produktiven Phase Maßstäbliches, gar Meisterliches gelingt - und die fortan nur daran noch gemessen werden. Während die Welt um sie herum permanent weiter sich dreht und entsprechend gewandelte Erwartungen hervorbringt, geraten solche Genies dann leicht ins Abseits des Fortschrittskarussels und seiner Gier nach ständig Neuem.

Auch Der Friedensengel bildet hierin keine Ausnahme, ist klassischer Siegfried Wagner at his best und folgt auch inhaltlich dem Muster dunkler Stoffe, welches seelische Tiefen und Untiefen auslotet, ohne dabei zu psychologisieren: weder fachlich im Guten noch gefällig im Schlechten. Seine Figuren agieren selten klar motiviert, ihre Handlungen folgen kaum erklärlichen Mustern, und deren Ursachen sind den Handelnden selbst oft ebenso unklar. Stattdessen leiden die Handlungsträger an Lasten der Vergangenheit, an Flüchen und verborgener Schuld: sie gehen voll auf im geistigen Kosmos jenes Mittelalters, in dem fast alle Stücke situiert sind.

So auch hier: Willfried will aus seiner unglücklichen Ehe mit Eruna heraus, was schwerlich an Eruna liegen kann, so dass seine Motivation eher unklar bleibt. Willfrieds Friedenswillen darf man indessen kritisch beäugen, denn auch zur Jugendliebe Mita hat er kein konstruktives Verhältnis: als Mita seinen Plan zum gemeinschaftlichen Selbstmord zurückweist, fällt ihm nichts Besseres ein, als sich alleine umzubringen. Die übermächtige Mutter Kathrin und andere Vertreter der örtlichen Strukturen zeigen wenig Verständnis, weder für die eine noch die andere Seite, sind aber gerne bereit zu flotten Schuldzuweisungen an Unbeteiligte, z.B. an Mita, die nun, als Willfrieds Mörderin bezichtigt, zum Opfer des Fehmegerichtes wird, um jenen Selbstmord zu vertuschen, der Mutter Kathrins drängendstem Anliegen im Wege steht: den Leichnam Willfrieds unter kirchlichem Segen in „geweihter Erde“ zu begraben. Am Ende fliegt der Schwindel auf, der rasende Mob ist nicht zu stoppen, nur ein stummer Friedensengel als deus ex machina verkündet am Grabe finalen Frieden, von dem dann keiner mehr was hat. 

Oft sind es jene Außenseiter und düsteren Gestalten, denen Siegfried Wagner dankbare Aufgaben anvertraut. Da ist Ruprecht als Anführer jener wilden Meute, der gerade in seiner unappetitlichen Raserei reichlich Gelegenheit zu finsterem Glanz erhält, die Reuben Scott gekonnt aufgreift und stimmmächtig umsetzt; und da ist Andries Cloete als ein rücksichtslos Männlein wie Weiblein begehrender Lebemann, dem man eine frühere, echte Beziehung zu Mita so gar nicht abnehmen will. Reinholds verschlissen glänzender Morgenrock unterstreicht kaschierend, wie sehr er aus Zeit und Sinn gefallen ist. In dessen lustvoller Gestaltung geht Cloete aber so hingebungsvoll auf, dass es eine helle Freude ist, ihn zu erleben. Und da ist nicht zuletzt auch Uli Bützer als Balthasar, dessen Ansprache auf einer beiläufigen Hochzeitsfeier zur Generalabrechnung mit der gesamten Institution Ehe gerät, womit er die geplante Feierlichkeit an den Rand des Scheiterns bringt. Verglichen damit hat Julia Reznik als Eruna eher wenig Chance zum Glänzen, die sie aber entschlossen nutzt. Bleibt noch Mita: hier erleben wir Rebecca Broberg auf der Höhe ihres Schaffens! Wenn man das Glück hat, sie in ihrem nun schon länger als zwei Jahrzehnte währenden Einsatz für das Werk Siegfried Wagners und seiner Zeitgenossen zu begleiten, so ist es eine Freude zu sehen, wie weit sie hier gekommen ist.

Peter P. Pachls pianopianissimo-musiktheater ist seit Jahren die beste Adresse in Sachen Siegfried Wagner und eine verlässliche Größe im bewegten Feld der reisenden Projekttheater. Dem korreliert geradezu ideal die „Kulturbühne Reichshof“ als Bühne wie als Location generell. Als Inszenator nutzt Pachl geschickt die Topik jenes Ortes, der seit drei Jahren eine feste Spielstätte im Umfeld der Bayreuther Festspiele darstellt.

Pachls Regie löst zum einen Siegfried Wagners Vorgaben und zumeist sogar dessen Regieangaben minutiös ein, führt sie aber durch die Lesart seiner Inszenierung weiter. Da der Aufführungsort ein ehemaliges Bayreuther Lichtspiel-Theater ist, arbeitet diese Produktion mit Ausschnitten aus historischen Stummfilmen und zwar v.a. Szenen des Grauens, was der Komponist in seiner eigenen Deutung des Vorspiels als „Hass allwärts!“ umreißt. Bücher-Stapel als Symbol des gesammelten Wissens der Menschheit bilden im Laufe des Abends die einzigen Dekorationsteile. Im allegorischen Raumschiff a la Kubrick lassen sich Türen öffnen zu Räumen der Erinnerung, die sich aber zumeist als Schreckensörtichkeiten erweisen, Folterkammern der Wissenschaft und des sozialen Lebens.

Wer will, darf's Zufall oder Fügung nennen, dass ausgerechnet Siegfrieds Sohn Wieland Wagner für eine nie realisierte Aufführung des Friedensengel Bühnenbildentwürfe entwickelt hat, die überliefert und erhalten sind und die affirmationsfrei-dekonstruktionistisch - gewissermaßen als zweite Ebene - in diese Inszenierung eingeflossen sind.

In diesen ereignet sich die eigentliche Opernhandlung. Mit elektronischen Mitteln der Bildverfremdung leert der Bühnenbildner diese Illusionsräume kontinuierlich und gewinnt dadurch eine Fülle von Assoziationsketten filmischer Art, die jedoch eindeutig zu viel des Nicht-immer-Guten sind; denn wer ums Erfassen der ohnehin schon reichlich verzwickten Ursprungshandlung bemüht ist, wird aus dem überbordenden Assoziationsmaterial wenig mitnehmen und im übrigen die störende Ablenkung beklagen.

Siegfried Wagner mischt gerne die Ebenen Musik, Gesang, aleatorische Geräusche und frei gesprochenes Wort von „vernehmbaren Stimmen“. In solchen Momenten gibt es viel zu verarbeiten; einiges davon wird sich wohl erst beim wiederholten Betrachten der geplanten DVD dieser Produktion entschlüsseln lassen.

Aber was sind all diese Eindrücke gegen die scheinbar schwerelos schwebende Utopie von Frieden und Freiheit, wie ihn Rebecca Broberg als Mita im Friedensgesang heraufbeschwört? Hier erblüht unter der musikalischen Leitung von Ulrich Leykam sein souverän koordinierten Klangkörper „The Bayreuth Digital Orchestra“.

Beim „Digitalen Orchester“ handelt es sich um eine Eigenentwicklung von Ulrich Leykam. Zu diesem Zweck hat er in kaum fassbarer Mühe originale Tonspuren akustischer Instrumente in sämtlichen Tonhöhen und -Charakteren aufgenommen, die unter seinem „Dirigat“ verschmolzen werden derart, dass dabei eine manuell beeinflusste Synthese nicht-synthetischer Klangquellen sich ergibt, die hinsichtlich Tempo und Volumen je neu entsteht und dadurch dem realen Verlauf der je eigenen Aufführung variabel angepasst werden kann.
Der so entstehende Sound gelingt freilich nicht in sämtlichen Klangrichtungen gleich gut; sind Bläser und Harfen von realen Instrumenten kaum zu unterscheiden, so ist dummerweise der so wichtige Gruppen-Streicherklang bislang die hörbarste Abweichung zum Original. Hier wünschen wir Leykam eine glückliche Hand, um diese verbliebenen Defizite auch noch abzubauen! Denn so eine Art der Klangerzeugung bietet ja kaum erschöpfliches Potential zur Lösung vielfältiger Problemlagen des Aufführungsbetriebes: wo überall kein normales Orchester in üblicher Stärke auftreten kann, weil entweder der Saal zu klein ist oder das Portmonee, auch aber unter pandemie-relevanten Beschränkungen: dort bietet das Digitale Orchester zwar noch keinen vollgültigen Ersatz, wohl aber eine echte Alternative zur Ermöglichung des ansonsten Unmöglichen. 

Was aber passiert mit der singenden Mita? Bei jenem nicht unproblematischen Schluss einer himmlischen Heilsbotschaft durch einen weiblichen Chor von Engeln wird sie hier in eine mit fünf Solostimmen ausgeführte Gruppierung integriert, die dem Hass der Welt die Liebe in jeder Form entgegensetzt.