Richard the Kid & the King im Schauspielhaus Hamburg

Mama, Mama, ich will mein Pferd!

Den Boden des schwarzen Bühnenraumes füllt eine leicht nach vorn gekippte, runde Scheibe, darüber ein Himmel voller unterschiedlich hell strahlender, beweglicher Kugeln. Richard the Kid tritt auf. „Als ich auf die Welt kam“, beginnt er leicht lispelnd seinen Bericht ans Publikum. Wir erfahren, dass schon im Mutterleib ihn jegliche Liebe verlassen habe, die Hebamme kotzte, man ihn als Kröte oder gar „rohen Klumpen Fleisch“ bezeichnete.

Wie in dieser Szene wird sich Richard immer wieder an uns, das Publikum, wenden, uns schäkernd zu Mitwissern und Komplizen machen, denen er mehr zutraut als seinen „Mitspielern“, den Tumben Toren um sich herum, die sein schon bald beginnendes mörderisches Spiel nicht durchschauen können oder wollen, die kampflos zu Mit-Tätern und Opfern werden.

Aber vorerst steht noch the Kid, der Junge, vor uns. Doch nicht als Missgeburt, als Krüppel mit steifem Bein und Buckel, wie Shakespeare ihn schildert, sondern als kraftvolle Frau in schwarzer Schlabberhose und grünlichem Kapuzen-Sweatshirt: die grandiose Lina Beckmann, die uns mit Charme und Wucht den Protagonisten vom ungeliebten Kind zum brutalen Despoten präsentiert. Und gerade diese Spur, diese mögliche Bedingtheit von schlimmer Kindheit in Ablehnung, Spott und dadurch lädiertem Selbstbild und später Rache am gesamten Universum, diese nicht eben neuen oder gar originellen psychopathologischen Zusammenhänge, verfolgt Karin Henkel zweifellos mit ihrer Besetzung, das heißt mit ihrer gesamten Regie. Dieser Richard braucht keinen körperlichen Defekt, seine psychisch-moralische Missbildung, seine toxische Männlichkeit ist alternativlos.

Dieses geschundene Kind schreit bis zum Schluss nach der lieblosen Mutter. Wie ein hilflos verhallendes Motto zieht sich der Ruf: „Guck mal, Mama!“ durch das Stück. Wenn auch vorerst (als vorweggenommener Schrei nach dem Pferd am Ende des Stücks) mit dem Zusatz: „Ich will mein Pferd!“, und siehe da, ein kleines weißes Schaukelpferd wird auf die Bühne geschoben und der mächtige „Kinderkörper“ beginnt zu schaukeln.

Schleichend beginnt das grausame Abschlachten aller, die im Wege stehen zu düster-dräuender Elektromusik (Arvild J. Baud): Köpfe der Ermordeten fliegen in Plastiktüten auf die Bühne und in einem makabren Mordszenario schlachtet Richard selbst den brav-arglosen Lord Hastings ab, entreißt ihm das Gedärm und vollführt blutverschmiert einen monströsen Totentanz damit. Mit der Bemerkung, dass davon besser nichts nach draußen dringen solle, nehmen die Umstehenden alles zur Kenntnis. Lassen sich mit Lügen und falschen Versprechungen bei Laune halten, während Richard das Publikum augenzwinkernd in die Methoden seiner Bösartigkeiten einweiht.

Dabei wählt Henkel weithin nicht die geschliffene Sprache des Originals, verzichtet auf brillante Pointen und poetische Monologe, die Shakespeare seinen Figuren zuschreibt, sondern wählt vorwiegend die rauen, gelegentlich zum Kauderwelsch verkommenden Texte, die Tom Lanoye 1997/99 für seine zwölfstündige Shakespeare-Adaption „Schlachten!“ schuf. Da mischt sich bisweilen brutale und obszöne Alltagssprache mit Slang, Denglisch, Flämisch, Deutsch und irgendwann sogar Trump-Zitaten.

Am Ende ballert Beckmanns Richard wild mit dem Maschinengewehr um sich, bevor der Ruf: „Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für’n Pferd!“ ungehört verhallt. Kein Pferd. Kein Königreich.

Neben dieser fulminanten Partie der Lina Beckmann als charmantes Scheusal, fasziniert der Schauspieler Kristof Van Boven mit einem grandiosen Rollenmix gleich aller Lancaster-Leute: blitzschnell wechselt er vom Untoten, König Heinrich VI, zu Königin Margarethe im langen Abendkleid oder zur Lady Ann im Tüllröckchen und führt höchst komödiantisch auch alle Dialoge mit seinen Figuren. Am Ende bietet er als Sieger mit Krone eher eine traurige als hoffnungsfrohe Figur Heinrichs VII.

Das Publikum bedankte sich mit Standing Ovation für einen fulminanten Theaterabend.