Scheitern in edler Schlichtheit
Am Boden des tiefen schwarzen Bühnenraumes werden große weiße Quadrate von nackt herabhängenden Glühbirnen angestrahlt. Locker verteilt darauf schmutzigweiße Tische und Stühle aus streng rechteckigen Holzlatten. Ganz hinten auf einer langen Bank warten Figuren in Kostümen vergangener Tage auf ihren Auftritt.
Stille. Dann dröhnende Akkorde vom Flügel vorne im Saal. (Mit der „Sonate Nr. 5 für Klavier“ 1986 von Galina Ustwolskaja wird Per Rundberg die Aufführung live begleiten.)
Bevor die Geschichte des Fürsten Myschkin wirklich beginnt, wird zu Glockengeläut das Gemälde „Der tote Christus im Grabe“ (1521) von Hans Holbein d. J. hereingetragen und auf zwei Stühle mitten auf der Bühne platziert. Ein Gemälde, das in flachem Querformat den lebensgroßen mit Wunden bedeckten toten Christus zeigt, und das in seinem Original Dostojewski 1867 bei einem Besuch im Basler Kunstmuseum tief erschütterte.
Wie im Roman stellt das Gemälde gleichsam als Bildmotiv die zentrale Frage des Geschehens nach einem Sinn über dieses Leben hinaus, nach einem „christusgleichen“ Leben in Wahrhaftigkeit, nach der Möglichkeit, ein wahrhaft guter Mensch auf dieser Welt zu sein. Dieser Frage geht der Regisseur Johan Simon in einer von Angela Obst (Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum) auf viereinhalb Stunden reduzierten Bühnenfassung des Romans nach. Dabei bleibt er ganz nah am Originaltext, und besetzt die Hauptfigur mit dem hinreißenden Jens Harzer als Fürst Myschkin, der in herzergreifender Intensität den inneren Zerfall eines arglosen Menschen, das Scheitern eines Idealisten an der Realität auf die Bühne bringt. Leicht gebeugt, unsicheren Schrittes, mit Fellkäppchen auf dem Kopf und schleifender Hose betritt er nach langer Abwesenheit im Schweizer Sanatorium die ihm fremd gewordene Petersburger Gesellschaft, die seine Arglosigkeit und naive Offenheit einerseits schnell als Idiotie klassifiziert, andererseits aber auch auszunutzen weiß. Er fühlt die Isolation, sein Anderssein: „Mir fehlt die richtige Geste für die Dinge und auch das richtige Maß, ich finde nicht den rechten Platz“, stellt er halblaut, unsicher vor sich hin sinnierend fest.
Und das gilt auch in der Liebe. Da fühlt er sich gleich zu zwei starken Frauen hingezogen und weiß doch nicht, ob er sie aus Liebe, Mitleid oder Verpflichtung heiraten will oder soll. Und als er sich endlich für die schöne Nastassja Filippowna Baraschkowa entscheidet und ihr hingebungsvoll das Hochzeitskleid überzieht, taugt es nur noch als Totenkleid. Doch das kommt erst am Ende der Geschichte.
Vorerst erscheint Marina Galic als strahlende Schöne in bodenlangem rosa Gewand und berichtet von den Verletzungen ihres Lebens, setzt sich dann breitbeinig mit geschürztem Rock auf einen Stuhl mitten auf der Bühne und bleibt dort vorerst unbeweglich, während das Geschehen an ihr vorübergleitet.
Nicht weniger eindrucksvoll präsentiert sich allerdings die Rivalin Aglaja Jepantschina, von Maja Schöne temperamentvoll und beinahe als Intellektuelle gegeben, dazu noch von einer selbstgewissen Mutter, der Generalin (Christiane von Poelnitz) kräftig unterstützt. Auch sie will den Fürsten: Aristokrat, Millionär, Idiot - was will man mehr.
Dann ist da noch Parfjon Rogoschin (temperamentvoll, rasant: Felix Knopp), der leidenschaftlich um Nastassja kämpft, sie keinem anderen gönnt, zugleich aber an ihr leidet und nebenher zwischen brüderlicher Freundschaft und mörderischer Feindschaft zum Rivalen Myschkin hin- und hergerissen ist.
Neben Liebe und Eifersucht geht es auch ums liebe Geld, um Lügen und Intrigen. Dabei wälzt man sich am Boden, verwirbelt das weiße Mehl der strahlenden Quadrate zu farblosem Einerlei. Auch geht es immer wieder in endlosen Debatten und Monologen ums Leben und Sterben. Das kann auch mal zu viel des Guten werden. Etwa wenn Ippolit Terentjew (Ole Lagerpusch), der bis dahin noch gar nicht in Erscheinung trat, plötzlich hinkend und stotternd schier endlose Runden auf der Bühne dreht, dabei nur Schwerverständliches über die Sinnlosigkeit allen Seins palavert, um sich dann vergeblich zu erschießen zu versuchen.
Währenddessen sieht man Myschkin hilflos, abwesend, leicht vorgeneigt mit halboffenem Mund am Bühnenrand langsam in sich zusammenfallen.
In der letzten Szene liegt die von Rogoschin ermordete Nastassja vor dem Holbein-Gemälde, der Fürst legt sich mit dem Mörder dazu. Man hört draußen Schritte.
Im Roman fällt Myschkin in die Krankheit zurück und bricht wieder in die Schweiz auf.
Johan Simons Werkadaption bleibt in Text und Interpretation ganz nah bei Dostojewskij und den autobiographischen Details des Romans. Dazu gehören nicht nur das Holbein-Erlebnis und die Epilepsie, auch die Episode zu Beinahe-Hinrichtung und Begnadigung, von der der Fürst ausführlich berichtet, verweist auf ein Eigenerlebnis des Autors. (Am 22.12. 1849 begnadigte Zar Nikolaus I Dostojewskij in letzter Sekunde vor der Erschießung auf dem Semenowskplatz in Petersburg.)