Übrigens …

Der eingebildete Kranke im Schauspiel Hannover

Flucht vor starken Frauen

Dank 3-G-Regel darf das Publikum, nachdem es seine Plätze eingenommen hat, die Masken absetzen. Die große Mehrheit folgt der Option. Auch das ein Stück wiedererlangter Freiheit. Dennoch bleiben Seuche und Krankheit ernstzunehmende Themen. Desto wichtiger, das Lachen nicht zu verlernen. Das Schauspiel Hannover leistet dazu seinen neunzigminütigen Beitrag. Die Figuren rücken dazu schon deshalb dichter auf das Publikum zu, weil sie einander statt mit den Namen, die Molière vorgesehen hat, mit den bürgerlichen Namen der Spielenden anreden.

Molière war gewiss kein eingebildeter Kranker. Des Komödiendichters Leidensgeschichte war lang. Während der vierten Aufführung des Eingebildeten Kranken ereilte ihn am 17. Februar 1673 ein Blutsturz, an dem er kurz darauf zuhause starb. Krankheit, gleich ob echt oder lediglich eingebildet, ist für Regisseurin Anne Lenk aber nicht das Kernthema des Lustspiels, sondern bloßes Vehikel, um die Titelfigur in ihrem Ringen um Fürsorge und Aufmerksamkeit zu beobachten. Denn Philippe (Argan) weiß sich auf schwankendem Posten. So sehr er sich als Patriarch aufspielt und seine Umgebung allein zur Erfüllung seiner abstrusen Wünsche geschaffen wähnt, so arg empfindet er sich andererseits von den starken Frauen im Haus zunehmend in die Ecke gedrängt. Und flieht in die Krankheitsfiktion. Entsprechend fehlt ihm jedes echte Verlangen nach Genesung. Scharlatane wie Dr. Doppelbauer (Diafoirus) und dessen abgedrehter Sohn Niki (Thomas) kommen da gerade recht. Je mehr Geld für Fake-Therapien und wirkungslose Medikamente zum Fenster hinausfliegt, als desto bedeutender empfindet die Titelfigur ihre - vermeintlich - hochherrschaftliche Patientenmacht. Medizin wird zum Statussymbol.

Das alles kommt in der 2019 in Bonn erstmals gespielten Bearbeitung von Martin Heckmanns flott, pointiert und charmant über die Rampe. Dazu bei trägt jenes in Krankenhaus-Farben getauchte Wellness-Oasen-Heim des von den Frauen seiner Umgebung angezählten Haustyrannen, das Judith Oswald in den Rahmen des Bühnenportals hineinstellt. Sibylle Wallum frönt ihrer Leidenschaft für schrille Outfits vor allem am jungen Glück von Lea Sophie (Angélique) und Fabian (Cléante). Erstere wird zur Wuchtbrumme, ihr Geliebter hingegen zur schmalen, leicht verhuschten Erscheinung.

Das Ensemble ist aus einem Guss. Wie Philippe (Argan) und Miriam (Béline) einander gurrend nähern, er voller begehrender Inbrunst, sie in Erwartung des Erbfalls, ist für sich allein schon ein Kabinettstück. Lea Sophie Salfeld (Angélique) gibt die beherzt-couragierte Tochter des Hauses mit anrührender Singstimme. Haushälterin Irene (Toinette) wird von Irene Kugler burschikose Statur verliehen. Sebastian Jakob Doppelbauer (Diafoirus) schleimt sich pseudo-wienerisch als Fake-Therapeut an die Titelfigur heran. Des Scharlatans Sohn Niki (Thomas Diafoirus), den Nikolai Gemel mit dekadenter Durchtriebenheit versieht, huldigt offenbar dem permanenten Konsum irgendwelcher Modedrogen. Fabian Dott (Cléante) und Sabine Orléans ((Béralde) runden die Personage ab.