Übrigens …

Eugen Onegin im Opéra Royal de Wallonie

Adel und Revolution

Im Gegensatz zu seinem Historiendrama Boris Godunow hängt Puschkins Versroman Eugen Onegin aus dem Jahr 1831 für heutige Leser hinsichtlich des historischen Hintergrundes und der gesellschaftlichen Umstände einigermaßen in der Luft, obschon uns mit der Titelfigur ein damals neuer Typus Mann begegnet, der Dandy Lord Byronschen Zuschnitts mit seinem Ennui und Weltschmerz. Nicht anders die ein halbes Jahrhundert später uraufgeführte Oper Tschaikowskis.

Regisseur Eric Vigié schärft die Umrisse des Werks, indem er die Handlung in die Jahre der Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 samt ihrer Folgen verlegt. Während auf der einen Seite Mutter und Schwester Tatjanas unbeirrt am Hergebrachten festhalten, schließt sich Onegin aus purer Langeweile den Revolutionären an. Gremin hingegen handelt kalkulierter und schwimmt auch im bolschewistischen Regime obenauf. In der Tat fanden sich zahlreiche Adelige in kommunistischen Führungspositionen, an ihrer Spitze Lenin selbst. Vigié arbeitet die unterschiedlichen Stadien der Entwicklung vor allem in den Ballszenen heraus. Gibt sich die Festivität auf dem Landgut der Larinas als gegen den Willen der Familie raubeinige Revolutionsfolklore, so herrscht bei Gremin die kühle Eleganz der inzwischen etablierten bolschewistischen Machthaber.

Als sein eigener Kostümbildner kleidet dazu Vigié die männlichen Gäste nicht länger in die auch von Onegin bevorzugte Hemdbluse, die Kosovorotka, sondern in Galauniformen. Kein Wunder, die roten Zaren unterscheiden sich in ihrem Sinn für Etiquette nicht von ihren Romanow-Vorgängern. Gary Mc Cann umgibt die Spielfläche mit hohen weißen Lamellenwänden, die ab und an die Sicht auf einen Wolkenprospekt freigeben. Das Landgut der Larinas wird von der monumentalen Haube eines Zwiebelturms überkuppelt. Auf dem Ball liegt sie pittoresk zertrümmert am Boden. Bronzestandbilder der roten Zaren Lenin und Stalin in Gremins Festsaal zeigen, wer dort den Ton angibt.

Die Produktion überzeugt musikalisch in vieler Hinsicht. Denis Segond und dem Chor der Königlich Wallonischen Oper kommt die pastorale und religiöse Atmosphäre entgegen, die Ballszenen bauen allzu sehr auf Lautstärke. Vasily Ladyuk hat manche Erfahrung mit der Titelfigur, gibt aber dennoch einen vokal seltsam unspezifischen, auch darstellerisch blassen Onegin. Das Moskauer Bolschoi-Theater besetzt ihn weniger im russischen Fach, sondern in den großen Baritonpartien der italienischen Oper. Tatsächlich lässt Ladyuk ahnen, was er darin zu leisten vermag. Ruzan Mantashyan ist eine überaus gewinnende Tatjana. Die Briefarie gestaltet sie zum vokalen und schauspielerischen Miniaturdrama. Der Lenski von Alexey Dolgov punktet an den entscheidenden Stellen. Maria Barakova ist eine temperamentvolle Olga. Vokales Großformat bietet Ildar Abdrazakov für Gremin auf. Margarita Nekrasova macht aus der Filipyevna ein Kabinettstück.

Helden aber dieser Produktion sind Speranza Scappucci und das Orchester der Königlich Wallonischen Oper. Was die Liégoiser Orchesterchefin mit ihrem Klangkörper aus dem Graben steigen lässt, taucht das Auditorium in eine Atmosphäre, wie sie russischer nicht sein kann. Voll Samtigkeit und Wärme, zugleich rhythmisch akzentuiert und in den Schlüsselszenen mit Sinn für den dramatischen Effekt leisten Dirigentin und Orchester Atemberaubendes. Tiefe Streicher und Holzbläser haben entscheidenden Anteil daran.