Plädoyer gegen die Todesstrafe
Am Premierenabend ist das Theater nicht ohne Blick auf die bis vor das Haus sich erstreckenden Menschenkette der Solidaritätskundgebung für Pflegende, Ärztinnen und Ärzte im Kampf gegen die Pandemie zu betreten. Auch mag das bahnbrechende Urteil über einen der Folterknechte des Assad-Regimes zu lebenslanger Haft in den Sinn kommen, das zwei Tage zuvor durch eine Strafkammer am nahegelegenen Oberlandesgericht gefällt worden war.
Nicht minder an politische und ethische Grundfragen rührt, was an diesem Abend auf der Koblenzer Bühne verhandelt wird. Jake Heggie und sein Librettist Terrence McNally plädieren in ihrer vor gut zwei Jahrzehnten in San Francisco uraufgeführten Oper entschieden und dermaßen packend gegen die Todesstrafe, dass das Werk seither mehr als 50 Produktionen erfahren hat. Auch in Deutschland arbeitet sich Dead Man Walking ins Repertoire hinein. Die ungemein sorgfältig konzipierte Koblenzer Produktion, zu deren Vorbereitung sich Hausherr und Regisseur Markus Dietze eigens zu Heggie in die USA begeben hatte, trägt dazu wesentlich bei. Die Oper wie auch der wenige Jahre zuvor gedrehte Hollywood-Streifen greifen auf die Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichten Erinnerungen von Sister Helen Prejean zurück, die als geistliche Begleiterin Delinquenten bis zur staatlich angeordneten Tötung beigestanden hat. Film und Oper unterscheiden sich grundsätzlich voneinander. Ersterer gestaltet den Stoff zum Gerichtssaal-Drama, das Musiktheater-Werk hingegen führt ganz auf den persönlichen Weg, den der zum Tod Verurteilte und die Ordensschwester gemeinsam beschreiten. Die Oper lässt an der Schuld des Joseph de Rocher keinen Zweifel, Regisseur Dietze verstärkt dies noch, indem er Vergewaltigung und Mord filmisch mit einem Realismus schildert, wie er auf der Bühne kaum annähernd zu ertragen gewesen wäre. Gegen die Todesstrafe spricht eben nicht das pragmatische Argument möglicher Fehlurteile. Vielmehr leugnet die durch die Justiz veranlasste Tötung eines Menschen dessen unendlichen Wert und unverbrüchliche Würde. Christlich übersetzt hebt dies auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und das Gebot der Nächstenliebe ab.
Dietze arbeitet bewegend heraus, wie sich Sister Helen von der naiv-gläubigen und sozialromantischen Idealistin zur den Delinquenten gleichermaßen unsentimental und voller Zugewandtheit bis hin zur tödlichen Injektion begleitenden Seelsorgerin wandelt. Schlagfertig, wenn nötig pointenbegabt und in tiefgehenden Gesprächen erwirbt sie sein Vertrauen. Getrost darf der Sterbende ihr ins Auge blicken. Dass dies für Sister Helen nicht ohne Verwerfungen abgeht, zeigt Dietze, wenn er die Ordensschwester unter der Last eines Albtraums, in dem sie die Akteure mit Vorwürfen und Forderungen bedrängen, zusammenbricht. Doch öffnet sich schließlich der anfangs harsche und provokante De Rocher einer Liebe jenseits von allem, was er vor der Begegnung mit der katholischen Ordensschwester kannte. Dem amor hat sich die Nonne verschlossen, um sich desto weiter der caritas zu öffnen. Für De Rocher wird zur erlösenden Erfahrung, dass er sich darauf einzulassen lernt.
Dies alles trägt sich in einem die beklemmende Atmosphäre des Todestraktes einfangenden Einheitsbühnenbild zu. Christian Binz umgibt die durch Abdeckung des Orchestergrabens erweiterte Spielfläche mit hohen grauen Betonmauern, die beinahe bis ins Auditorium ragen. Die Hinterwand öffnet sich auf einen Gang durch den Todestrakt. Zudem für die Kostüme verantwortlich, erspart Binz der Seelsorgerin das Ordenshabit, um sie in ein Zivil zu kleiden, das dem der anderen Beteiligten an Biederkeit nicht nachsteht.
Musikalisch ist die Produktion aus einem Guss. Aki Schmitt hat den Chor des Hauses wie auch die Herren des Extrachors darauf vorbereitet, die ganze Härte des Gefangenendaseins im Todestrakt auch vokal zu beglaubigen. Spielfreudig formieren sich die Männer beim Basketballspiel zu passablen Häftlingsmannschaften. Die von Wolfram Hartleif einstudierten Kinder der Singschule Koblenz bringen ein Moment von Unbefangenheit und Lebensfreude ins Stück. Karsten Huschke kostet mit dem auf der Hinterbühne positionierten Staatsorchester Rheinische Philharmonie das Amerikanische der Partitur mit ihren Elementen aus Gospel, religiöser Hymnik, Jazz und monumentalem Filmsoundtrack aus. Bisweilen bauen sich tönende Wände auf, dann wieder gewinnt der Groove Oberhand.
Danielle Rohr ist Sister Helen Prejean. Von ihr geht eine Keuschheit ohne jede Prüderie aus, die ihre Wirkung auf den Mörder und Vergewaltiger nicht verfehlt. Die Intensität von Rohrs schlankem, dabei noch in Extremsituationen temperiertem Mezzo erfüllt des Hauses letzten Winkel. Durch Derbheit und Provokation des Hinrichtungskandidaten Joseph de Rocher überzeugt Bariton Andrew Finden ebenso wie durch dessen Todesangst und reflexive Passagen. Monica Mascus als Mrs. de Rocher liefert eine eindringliche Studie der zeitlebens völlig überforderten Mutter des Delinquenten. Hana Lee, am Haus eigentlich zuständig für sopranistische Stratosphärentöne, gospelt Sister Rose, als hätte sie nie in ihrem Leben anderes getan. Stellvertretend für die vielen kleineren Partien im hervorragend besetzten Riesenensemble sei James Bobby genannt, der dem Publikum Owen Hart, den Vater des ermordeten Mädchens, als gebrochenen Mann nahebringt.