Traurige Geschichten, schöner Tod
Grief & Beauty - Trauer und Schönheit: Das seien unvereinbare Gegensätze, liest man immer wieder, wenn vom zweiten Teil von Milo Raus Trilogie des Privatlebens die Rede ist. Dabei treten Trauer und Schönheit im Theater oft wie eineiige Zwillinge auf. Haben Sie noch nie im Theater geweint, weil eine traurige Szene Sie berührt hat? Berührt hat, weil das Leiden einer Bühnenfigur oder gar ihr Tod so schön, so einfühlsam inszeniert, so gefühlvoll gespielt war? Na also! - Aber Milo Rau möchte in seiner Trilogie den Alltag untersuchen, nicht das Theater. Ist die Verbindung von Trauer und Schönheit alltagstauglich? Kann es sein, dass wir um einen Menschen trauern und eine Situation gleichzeitig als schön empfinden?
„Didos Klage“ aus Henry Purcells Oper Dido & Aeneas ist das musikalische Leitmotiv in der 90minütigen Aufführung. Das war eine von Johannas Lieblings-Musiken. Die Cellistin Clémence Clarysse stimmt die Melodie gleich zu Beginn der Aufführung an; sie wird zu Johannas Tod gespielt, und schließlich singt der Schauspieler Arne de Tremerie die Arie, den Rücken dem Publikum zugewandt, nicht virtuos, aber voll zartem Gefühl. Johanna stirbt live vor unseren Augen - naja, im Re-Live, im Film. Schon beim Einlass ins Parkett schaut sie uns von der Videowand an, freundlich, ernst, fast bewegungslos. Nur das Klimpern ihrer Augenlider ist zu erkennen, und ein Pendel markiert die vergehende Zeit. 85 Jahre ist Johanna geworden; zuletzt war sie krank und litt unter Schmerzen. Trauern sei die einsamste Tätigkeit, hat Milo Rau in einem Interview gesagt. Sterben ist eine nicht minder einsame Handlung, wusste Johanna. Einsam wollte sie nicht sterben, aber in Würde, mit einem Lächeln im Gesicht. Deshalb nahm sie Sterbehilfe in Anspruch. Sie verabschiedete sich von ihrer Familie, ihren Freunden, und wer mochte, durfte bis zum Schluss bleiben. Jeder bekam ein Glas Champagner - und dann ließ sich Johanna die tödlichen Injektionen verabreichen. Auch das Team vom NT Gent durfte die alte Dame bis zum Eintritt des Todes begleiten. Die Kamera auch. Und so sehen wir sie langsam einschlafen, schmerzfrei. Mit einem Lächeln im Gesicht. „Didos Klage“ erklingt.
Es ist ein Tod, wie Johanna ihn sich gewünscht hat. Ihr Lächeln mag uns sagen, dass es ein schöner Tod war. Als Zuschauer trauert man um die alte Dame; ob man die Szene als schön bezeichnet, wird individuell verschieden sein. Gerade für den deutschen Besucher bekommt die Inszenierung in diesem Moment auch eine politische Komponente. Nach wie vor ist die aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten und der assistierte Suizid in einer rechtlichen Grauzone. Das Bundesverfassungsgericht urteilte im Februar 2020, dass „das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen“. Das Verabreichen todbringender Medikamente ist jedoch nach wie vor nicht freigegeben. In Belgien und den Niederlanden sind die Regelungen liberaler: Was wir auf der Bühne und im Film sehen, ist dort legal, und eine Legalisierung wird von vielen Menschen auch in Deutschland herbei gewünscht. Milo Raus Inszenierung handelt von der Selbstbestimmung im Tod, aber dem Regisseur geht es nicht um eine politische Auseinandersetzung. Es geht ihm auch nicht um den Tabubruch, das selbstbestimmte Sterben quasi live auf die Bühne des Theaters zu bringen. (Das haben Markus&Markus in Deutschland bereits im Jahre 2015 anhand des Todes von Margot aus Düsseldorf getan - siehe hier; die Sterbeszenen gleichen einander wie ein Ei dem anderen.) Milo Rau geht es darum, den Tod als Teil des Lebens, als Teil des Alltags zu enttabuisieren, verschiedene Formen der Trauer zu untersuchen. Trauer und Schönheit seien sehr individuelle Empfindungen, seien unteilbar und nicht kommunizierbar, sagt Rau und versucht, entgegen dieser Erkenntnis die Gefühle zu vergemeinschaften, sie mit Akteuren und Zuschauern zu teilen.
Dass auch jeder Tod individuell ist und individuell angegangen wird, weiß Milo Rau selbstverständlich. Er spielt den Tod von Johanna auf der Bühne nach. Staf Smans gibt den alten pflegebedürftigen Mann, Arne de Tremerie ist sein Pfleger. Princess Isatu Hassan Bangura gibt ihm als Sterbehelferin die tödlichen Injektionen; es wird Champagner ausgeschenkt. Aber Staf ist nicht Johanna: Er reagiert verärgert und schickt alle aus dem Raum. Vier Schauspielerinnen und Schauspieler hat Rau für seine Inszenierung gecastet - zwei Laien und zwei Profis. Sie spielen betont undramatisch; ihr Bühnenleben ist ein langer ruhiger Fluss. In einfachen Worten berichten sie von ihren privaten Erfahrungen mit der Kunst, mit dem Theater, vor allem aber mit Krankheit und Tod. Staf Smans kann sogar mit kleinen Erfolgsgeschichten aufwarten: Der Junge von Hof wird Buchhalter, Oberbuchhalter und in hohem Alter sogar Beckett-Schauspieler an einem kleinen Theater. Aber er spricht auch vom frühen Tod der Tochter. Arne berichtet berührend authentisch von der MS-Erkrankung seiner Mutter, in deren Folge sich die erkrankte Mutter vom gesunden Vater trennte, da sie dessen Launen nicht mehr ertragen konnte. Princess Isatu, im Alter von 12 aus Sierra Leone in die Niederlande gekommen, erzählt von Ausgrenzungserfahrungen an der Schauspielschule und - schlimmer - von den Folgen der Scheidung ihrer Eltern: Dem Vater wird - wohl ungerechtfertigt - nachgesagt, dass er infolge der Scheidung die Familie töten werde, und so wird der Kontakt von Princess zu ihrem Vater nicht mehr zugelassen. Anne Deylgat, pensionierte Tierärztin, ist für eine Produktion als Hundesitterin zum NT Gent gestoßen, berichtet vom Tod ihrer Katze und stimmt gemeinsam mit dem ganzen Ensemble Vogelstimmen und Wolfsgeheul an: Da teilt sie tatsächlich Trauer und Schönheit mit anderen anwesenden Menschen, während alle anderen Geschichten scheinbar unverbunden mit den übrigen Bühnenfiguren bleiben.
Unverbunden - und doch ineinander verschränkt, gemeinsam mit der Musik zu einer wunderbar zarten und poetischen Komposition miteinander verwoben: Die individuellen Geschichten werden nicht nacheinander erzählt, sondern abwechselnd, unterbrochen von Alltagsverrichtungen wie Kaffeekochen oder Staubsaugen in dem detailgenauen Bühnenbild, das wohl ein Nachbau von Johannas Wohnung ist. Mit jeder neuen Runde werden die Geschichten trauriger, die Erfahrungen bitterer. Bei der Beerdigung eines Kindes, so wird berichtet, springt versehentlich ein Feueralarm an, und niemand findet eine Möglichkeit, das schrille Geräusch wieder abzustellen: „Das“, ruft die Mutter aus, „ist jetzt der Sound meines Lebens.“ Doch es ist nicht der Sound der Inszenierung. Weil alles, was da in zarter Intimität erzählt wird, Geschichten sind, die von den Personen, die sie erlebt haben, so erzählt werden wollen, weil auch Johannas Tod, den wir voller Trauer miterleben, so gewollt war, löst der Titel sein Versprechen ein: Wir haben Tränen in den Augen, doch liegt in der Trauer auch ein gehöriges Maß an Schönheit.
Küchenzeile, Krankenzimmer und Bad heben sich am Ende in die Lüfte und geben den Blick frei auf ein mit Hilfe einer Nebelmaschine und eines starken Bühnenscheinwerfers kreiertes Schwarzes Loch. Arne de Tremerie erklärt das physikalische Phänomen des Schwarzen Lochs und berichtet, dass es Forschern kürzlich erstmals gelungen ist, ein solches zu fotografieren. „Ein Foto von Nichts“, sagt Staf lakonisch, wegwerfend. „Ja“, entgegnet Arne, „oder ein Foto von allem.“ Vielleicht ist der Tod ein solches Schwarzes Loch. Vielleicht hält er das Nichts für uns bereit. Oder alles. Die Erinnerung an ein ganzes Leben. So oder so - ist das nicht schön?
Die Inszenierung ist am 24., 25., 26. und 27. Februar zu sehen im Theaterhaus Mousonturm in Frankfurt - siehe hier.