Anatomy of a Suicide im Staatstheater Hannover

Todesdrang und Lebenswille

Ohne den sperrigen Fachbegriff der „transgenerationalen Übertragung“ müsste die Annäherung an Stück und Produktion schwerfallen. Er stammt aus den Sozialwissenschaften und meint die in der Regel unbewusste Weitergabe unverarbeiteter seelischer Traumata von einer Generation zur nächsten. Sein vorwissenschaftlicher Ahne findet sich bereits im griechischen Mythos, dort heißt er Fluch. Wie jener, der auf dem Haus der Atriden liegt und durch Aischylos in der „Orestie“ für das Theater produktiv gemacht wurde.

So bedient sich denn Alice Birch in ihrer 2017 am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführten und zwei Jahre darauf am Deutschen Schauspielhaus erstmals hierzulande herausgekommenen Anatomy of a Suicide eines uralten Motivs. Sie verlagert es in eine britische Mittelschichtfamilie, wo sie dem Hang zur Selbsttötung von Mutter Carol, Tochter Anna und Enkelin Bonnie nachspürt. Freilich bleibt das Trauma, das Carol den Tod suchen lässt im Dunklen. Ihr Mann liebt sie. Die Familie lebt in einem komfortablen Haus, umgeben von einem lauschigen Garten mit gepflegtem Baumbestand. Dennoch reicht Carols Kraft zu leben - von Lebensmut zu schweigen - nur, bis Tochter Anna 16 ist. Vom Suizid der Mutter im Innersten und dauerhaft getroffen, flüchtet Anna zunächst in Drogenexzesse, später in eine bürgerliche Ehe, Mutterschaft und den Einzug ins ererbte Haus. Nichts hilft, sie öffnet ihre Pulsadern. Tochter Bonnie ergreift im Gegensatz zum Hausfrauendasein von Mutter und Großmutter einen Beruf. Als Ärztin behält sie die Kontrolle über Leib und Psyche. Bis in die für sie letzte Konsequenz: Mit ihrer Sterilisation entscheidet sich Bonnie zwar dagegen, schwanger zu werden und Kinder zu gebären, doch für das eigene Leben.

Alice Birch drängt die Episoden der Familiengeschichte fallweise durch Parallelisierung oder Verschachtelung der Zeitebenen dicht zusammen. Mitunter kommunizieren die drei Frauen Jahre und Räume durchmessend miteinander. Die Dialoge bestehen oft aus einfachen Frage- und Antwortsätzen. Immer wieder herrscht auf „ja“, „nein“, „klar“ reduzierte Einsilbigkeit vor. Inflationär bitten Carol und Anna um „Entschuldigung“, der stehenden Formel, um für ihren Unwillen zu leben Nachsicht zu finden.

Bei Lilja Rupprecht gewinnen die Figuren wenig Plastizität. Allesamt bleiben sie ortlos in Raum und Zeit, daher die Umstände ihres Lebens und Sterbens diffus. Anfangs nimmt Rupprecht viel Rücksicht auf die Präzision des sprachlichen Minimalismus. Im Lauf des Abends verflüchtigt sich diese Genauigkeit. Eben dadurch offenbart sich das Gekünstelte solcher Wortkargheit. Stil droht zur Masche zu missraten. Das Textaufsagen genießt dann Vorrang, die Interaktion gerät ins Hintertreffen. Um das Haus anzudeuten, von dem so oft die Rede ist, stellt Anne Ehrlich mit halbtransparent-weißem Stoff bespannte Holzrahmen auf die sonst nackte Bühne. Atmosphäre kommt nicht auf, obschon die Worte der Figuren sie glaubhaft bekunden. Die Tendenz zu Unbestimmtheit und Beliebigkeit wird durch die Kostüme Annelies Vanlaeres noch verstärkt. Videofilmer Robin Alberding aber fängt die Portraits der Spielerinnen in markanten Nahaufnahmen ein.

Überhaupt nimmt - trotz des allzu flach gehaltenen Regieballs - das Terzett aus Großmutter, Tochter und Enkelin für sich ein. Carol begegnet bei Sabine Orléans als ins Leben Verbannte. Orléans macht erfahrbar, wie Carol die von der Tochter ausgehenden Bindungskräfte abnehmen fühlt, während die des Todes erstarken. Dass Annas Heimatlosigkeit im Leben nicht vom jeweiligen Milieu verursacht wird, lässt Amelle Schwerk nachvollziehen. Caroline Junghanns verbreitet um Bonnie eine Aura im Widerstreit von Abkapselung und vorsichtiger Suche nach sozialen Kontakten. Den Entschluss zum Leben trägt sie wie Jeanne d’Arc ihre Rüstung, untrennbar verwachsen mit ihrer Person.