Weiblicher Rollenkonflikt mit tödlichem Ausgang
Was heute als paradigmatisches Werk des Belcanto gilt, birgt hinsichtlich der Geschlechterrollen beinahe revolutionären Sprengstoff. Britische und italienische Romantik verbinden sich zu einem weiblichen Rollenbild, das in schwarz- und schauerromantischer Einfärbung und Ästhetisierung durch endlose Kantilenen auf der Linie weit ausgespannter melodischer Schönheit nicht über den brutalen Plot hinwegtäuschen kann und wohl auch gar nicht will. Denn die Titelfigur wird von ihrem Bruder als bloße Verfügungsmasse innerhalb machtpolitischer und dynastischer Ambitionen behandelt, während der Geliebte in völliger Verkennung ihrer Situation seiner Eifersucht freien Lauf lässt.
Regisseur Sam Brown versucht erst gar nicht, die aggressionsgeladenen Verhältnisse schönzureden. Lucias Bruder scheut nicht vor körperlicher Gewalt, um sie zur Hochzeit mit dem von ihm ausersehenen Bräutigam zu nötigen. Wenn er auf ihrem Bett Platz nimmt, entbehrt das nicht einer sadistischen, vielleicht gar verkappt-inzestuösen Note. Kontrastiv dazu gönnt Brown der Titelfigur Augenblicke ekstatischen Glücks. Beseelt und beherzt rücken Lucia und Edgardo einander auf den Leib, um sich in malerischen Situationen von leidenschaftlicher Schönheit zu finden. Überhaupt beweist Brown ein Sensorium für optische Wirkungen und diese verstärkende Requisiten wie Sarg und Kandelaber, das er bis hin zu bildmächtigen Tableaus ausreizt. Er gibt damit dem schauerromantischen Drama das, was es bedarf.
Lucia landet als Gattenmörderin im Wahnsinn. Zwar entledigt sie sich im Gestus der Büßerin ihrer Haarpracht. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Zwangsverheiratete in Notwehr gehandelt hat. Dadurch aber wurde sie zur Selbsthelferin, die sich geradezu revolutionär vom Status eines bloßen Verfügungsobjekts befreit hat.
Alles dies steigt schlaglichtartig aus Bengt Gomérs Bühnendunkel und einem knöchelhoch mit Wasser gefüllten Bassin, dessen Wellenschlag und aufspritzende Tropfen die dramatischen Situationen und die Empfindungen der Figuren mitunter verstärken, doch nicht selten als Kneippsches Wassertreten über die Rampe kommen. Ohne Musealität ersinnt Sarah Mittenbühler Kostüme in Anspielung auf modische Trends der Romantik.
Die Produktion kann sich mehr denn annehmbar hören lassen, dies obwohl in der von den Osnabrückern herangezogenen kritischen Ausgabe von Gabriele Dotto und Roger Parker etwa Lucias Arie einen Ganzton höher notiert ist als in den üblichen Editionen. Die Arie wird von einer Glasharfe (Verrophon) begleitet. Auf solche Wagnisse kann sich das Haus einlassen, weil mit Sophia Theodorides eine stupende Vertreterin der Titelpartie zur Verfügung steht. Viel ließe sich über wunderbar runde Tongebung auch in den Koloraturen, gleichermaßen lyrische und dramatische Triller und Portamenti, samt wie selbstverständlich aus der Gesangslinie aufsteigende Spitzentöne schreiben. Entscheidend ist, dass sich solche Virtuosität nie verselbständigt. Seelische Feinstregungen erschließend stellt Theorides ihre sangliche Hochkompetenz vielmehr beständig in den Dienst an der von ihr verkörperten Figur. Für sie geht Theodorides ebenso darstellerisch in die Vollen. Oreste Cosimo gibt einen Edgardo mit viel Tenorschmelz und Leidenschaft. Rhys Jenkins erreicht als Enrico vokale Grenzen. James Edgar Knight leiht Arturo seine Stentorstimme. Opernchor und Extrachor des Theaters Osnabrück unter Sierd Quarré tönen solide. Voller Verve spornt Andreas Hotz das Osnabrücker Symphonieorchester zu ebenso couragiertem wie rhythmisch präzisem Zugriff auf die Partitur an. Oft liegt bereits Verdi in der Luft.