Erinnerung eines Mädchens im Schaubühne Berlin

Sex ohne Sinnstiftung

Weibliche Sexualität ist ein weites Feld. Während bei den Männern viele Klischees und Stereotype heutzutage zwar ins Lächerliche gezogen werden – Stichwort „allseits bereit“, „Korrelationen zwischen Größe des Autos und des kleinen Freundes“, „'richtige' Männer sind nicht monogam!“ - herrscht bei den Frauen vielerorts noch Verunsicherung, inwiefern über die eigene Sexualität gesprochen werden „darf“ - und wenn ja, in welcher Form und in welchem Rahmen.

Gut also, dass die Schaubühne momentan den „Rahmen Theater“ vorgibt und Erinnerung eines Mädchens von Annie Ernaux in einer intensiven und hier und da verstörenden Innenschau der brillanten Schauspielerin Veronika Bachfischer präsentiert. In Erinnerung eines Mädchens blickt Ernaux schriftstellerisch auf ihre traumatischen Erfahrungen mit Sexualität als junges Mädchen zurück: Mit siebzehn Jahren verbringt die junge Annie einen Sommer an der französischen Nordküste. Weit weg von zu Hause, das sie als provinziell und katholisch geprägt erlebt, hofft sie auf Freiheitsgrade – doch ihre erste sexuelle Begegnung mit dem fünf Jahre älteren Chefbetreuer „H.“ verläuft unerwartet gewaltvoll.

Doch Annie deutet das Erlebte in Leidenschaft um und flieht vor der eigenen, widersprüchlichen Gefühlswelt in sexuelle Abenteuer. Hohn und Spott ihrer Umwelt und ihres ersten Lovers sind ihr sicher. Das Trauma macht sich bei Ernaux durch Essstörungen und Menstruationsausfall bemerkbar: „Ein tiefer Zusammenhang zwischen weiblichem Begehren und der patriarchalen Unterordnung weiblicher Körper wird so sichtbar“, schreibt die Schaubühne. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Erinnerung eines Mädchens ist Ernaux bereits 76 und der Eindruck, dass nicht verarbeitete Trauma bei Menschen weitreichende Folgen haben, wird textlich deutlich spürbar.

Bachfischer spielt intensiv, klar, auch in den hysterischen Momenten, wenn Wut und Zorn sich ebenso bedrückend wie nachvollziehbar auf der sparsam eingerichteten Studiobühne ausbreiten.

Die Message von Ernaux' Text in 2022? Tabus und Klischees beim Thema Sex tun der menschlichen Psyche nicht gut. Es ist gut, dass Theater und Literatur schon immer einen Platz für dieses Thema geschaffen haben – aber sollte an Schulen und in Familien nicht auch offener kommuniziert werden, fragt sich theater:pur?