Selbst ist die Frau
Die ausgeprägte Italianità des Hauses hält die Liégoiser Oper nicht von der engagierten Pflege des französischen Repertoires ab. Ambroise Thomas‘ 1866 uraufgeführte, früher einmal landauf landab gespielte Mignon tritt den Beweis dafür an. Die Handlung beruht auf Goethes Bildungsroman Wilhelm Meister. Der junge Bürgersmann Wilhelm zeigt sich hin- und hergerissen zwischen der mit weiblichen Reizen lockenden Schauspielerin Philine und der geheimnisvollen, von fahrendem Volk entführten Mignon. Regisseur Vincent Boussard überrascht durch seine ungewöhnliche Sicht auf die beiden weiblichen Hauptrollen. Meist wird die Titelfigur zunächst unhinterfragt als Knabe gezeichnet. Bei Boussard hingegen leidet Mignon von Anbeginn unter der ihr von den Entführern aufgezwungenen männlichen Geschlechterrolle. Sehr bald steht da ein Vulkan vor dem Ausbruch. Auch die schon im Roman als Mignons Widerpart angelegte Philine ist in Liège alles andere als der mit der Figur üblicherweise verbundene Ausbund an Oberflächlichkeit. Die Leichtigkeit, mit der Philine das Leben nimmt, beweist beileibe keine Charakterschwäche. Sie agiert als in jeder Hinsicht freie junge Frau, die sich die Männer an ihrer Seite selbst aussucht. Überdies betätigt sie sich nicht allein als reproduzierende Künstlerin. Vielmehr sieht Boussard sie als Komponistin, die sich ihre Koloraturen selbst in die Kehle schreibt. Zwischen den beiden Frauen bleibt für Wilhelm Meister wenig darstellerischer Raum. Noch weniger für Lothario, den wandernden Harfner, der sich final als Mignons Vater herausstellt. Im frankophonen Bereich beinahe immer erfreulich ist die präzise von allen Solistinnen und Solisten gleich welchen Herkommens exzellente Diktion fordernde Regie der gesprochenen Dialoge, auch in dieser Produktion ist das der Fall.
Bühnenbildner Vincent Lemaire siedelt das Geschehen in einem Theater mit baufälligem Zuschauerraum im Hintergrund und im Kontrast dazu blitzblanker Bühne im Vordergrund an. Immer wieder öffnet sich ein Vorhang zum beinahe omnipräsenten Publikum hin. Clara Peluffo Valentini kombiniert effektsicher und optisch höchst attraktiv Rokokomode, Kostüme der Uraufführungszeit der Oper und heutige Garderobe.
Musikalisch bleibt so gut wie kein Wunsch offen. Denis Segond hat den Chor der Königlich Wallonischen Oper zu Präzision und Durchschlagskraft motiviert. Am Pult sorgt Frédéric Chaslin für die das Genre der Opéra comique auszeichnende Mischung aus Beschwingtheit und Sentiment. Stéphanie d’Oustrac ist Mignon. Mit der sonst eher lyrisch besetzten Partie eine renommierte Carmen wie d’Oustrac zu betrauen, stimmt haargenau mit dem Regieansatz überein, das glühend Weibliche in Mignon zu unterstreichen. Jodie Devos streut Philines blitzende Koloraturen auf Gesangslinien, die sich schelmisch durch das Reich der Imagination bewegen. Wer ihnen lauscht, weiß oft nicht so recht, was sie erzählen. Doch, wie sie glitzernd dahinperlen, raubt den Atem. Philippe Talbot als Wilhelm Meister führt seinen eleganten Tenor auf unangestrengte Höhen. Dem Lothario verleiht Jean Teitgen volltönende Bassstatur.