Leonore kann auch anders
Manche Inszenierung schreibt Theatergeschichte. Der Fidelio aus Kiew, gehört er dazu? Es wäre anmaßend, diese Inszenierung ad hoc in diese Rubrik einzuordnen. Aber sie ist auf jeden Fall außergewöhnlich. Denn in dieser Sicht des Regisseurs Andrey Maslakov kommt ein verstörendes Spiel aus Spaß, Witz, Bosheit, Bitterkeit, Schmerz, Hohn, Spott und tiefer Melancholie einschließlich zeitgeschichtlicher Betrachtung zustande, das einem im Theater Heidelberg den Atem verschlägt, wenn dort das ukrainische Theater während einer kleinen Deutschland-Tournee gastiert.
Was ist das „Verrückte“ daran? Dass Zeitschienen, Emotionen, Schicksale verrückt werden, um die Zeitlosigkeit von Beethovens Oper zu demonstrieren. Klar doch, der Krieg spielt eine Rolle, und ein großer Führer schaut zwischendurch überlebensgroß im Bühnenhintergrund auf die Szene. Ein gewisser Stalin, zu dessen Festtag die Eingekerkerten ein bisschen frische Luft schnappen dürfen. Eine Paradoxie, wie auch das ganze Leben ungreifbar scheint, denn Verstörung ist die Devise, welche alle gefangen hält. Wir finden keinen Ort im Leben, selbst im Schlussbild, wenn Leonore/Fidelio von der forschen Marzelline (Maryna Zubko) an den Herd zum Spiegeleierbraten beordert wird. Könnte ein Gag sein, doch das Böse lauert um die Ecke, als Leonore/Fidelio zur Kalaschnikow greift und die jubelnde Menge niedermäht. Das Leben besteht aus Bedrohung, der Tod ist allgegenwärtig, zumal in der Ukraine, es gibt kein Glück auf Erden, auch wenn Florestan irgendetwas von „O, welche Lust“ herausballert.
Und wie dieser Dmytro Foshchanka singt. Mit einer brutalen Verzweiflung, hart und eigentlich ohne Hoffnung. So hat auf deutschen Bühnen noch kein Tenor diese Partie gepowert. Das geht konform mit dem Dirigat von Sergii Golubnychyi, der am Pult der Heidelberger Philharmoniker und des dortigen Chors ungestüm das fürchterliche Leben herausschleudern will. Dass dabei zuweilen die Koordination mit der Szene leidet, ist den Umständen geschuldet, einschließlich knappster Probenzeit. Auch Maria Kononova (Leonore/Fidelio) gehört in die Kategorie unkonventionell mit bissiger Stimmführung. Als Rocco ironisiert Oleksandr Kharlamov sich selbst, lebt der Banalität des Bösen mit Würsten um den Hals und deutscher Romantik-Lyrik, während Abdumalik Abdukayumov als böser Don Pizarro mit kernigem Kavalierbariton eher die üblichen Erwartungen erfüllt. Die zynische Meute, frisch der Freiheit frönend, wird ihn lynchen!
Was treibt diese Regie um? Sie ordnet - auch per Video-Einspielung - das Land ein in die Riege der Potentaten zwischen Afrika und Eurasien, sie spielt mit ein bisschen Hoffnung (Mauerfall) und konterkariert einen kleinen privaten Rückzug mit der Weltlage, die alles zunichte machen will. Dabei wird - auch mit zuweilen morbidem Bühnenbild - unser Dasein auf die Waage des Schicksals gelegt. Mir eher unglückseligem Ende, siehe Kalaschnikow.