The Greek Passion im Theater Osnabrück

Eine (schein-)heilige Familie

Hier, an diesem Flecken Erde, ist alles in schönster Ordnung. Der Ort erstrahlt in reinstem Weiß und seine Bewohner freuen sich ihres christlichen Glaubens, sind der vollen Überzeugung, nach Gottes Gesetz und Ordnung zu leben. Alle gehen mit Eifer ihren einträglichen Geschäften nach, weshalb auch die Welt des Konsums hier keine Grenzen zu kennen scheint. Auch die gute alte Tradition der Passionsspiele wird brav gepflegt. Gerade wird die Besetzung der Hauptrollen für die Aufführung im nächsten Jahr bestimmt. Das macht Priester Grigoris, der beleibte Kleriker, der hier im Ort das Sagen hat. So weit, so gut. Bis zu dem Augenblick, da in diese strahlend weiße Idylle eine ganz andere Realität buchstäblich einbricht. Ein Schiff strandet, es ist ebenso heruntergekommen wie die Passagiere an Bord. Geflüchtete am Ziel ihrer Rettung aus dem Meer. Zögerlich legen sie ihre Schwimmwesten ab.

Hier beginnt die Geschichte, die Bohuslav Martin? in seiner Oper The Greek Passion entfaltet. Sie zeigt das Bild einer vermeintlich rechtschaffenen Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen ihrem eigenen Anspruch und der Wirklichkeit. Im Theater Osnabrück realisierte Regisseur Philipp Kochheim zum Ende der Spielzeit 2021/22 im Bühnenbild von Uta Fink eine Inszenierung mit einem gut geschärften Blick auf alle Konflikte, die hier Thema werden, die kleinen wie die großen. Im Grunde aber geht es darum, die Verlogenheit jener Gemeinschaft zu entlarven, die sich zwar hehre Werte auf ihre Fahnen geschrieben hat - aber dann, wenn es darauf ankommt, sie auch in der Realität zu leben und nach ihnen zu handeln, in puren Egoismus verfällt. Solidarität? Mitmenschlichkeit? Existenzielle Hilfe? Das kommt für Priester Grigoris und etliche seiner Gefolgsleute gar nicht in Frage. Im Gegenteil: Ladas, der fiese Dorfälteste, versucht noch, Kapital aus dem Unglück der gestrandeten Geflüchteten zu schlagen. Brot gegen Wertgegenstände, die er unter den spärlichen Habseligkeiten der Neuankömmlinge vermutet!

Doch die zunächst geschlossen scheinende Front bröckelt, eine Handvoll Leute - es sind die ausgewählten Hauptpersonen des Passionsspiels - entwickelt Mitleid und beginnt zu helfen. Ein Affront gegen den machtbewussten Grigoris und seine Gefolgsleute. Konsequenz: Manolios, der auserkorene Jesus-Darsteller und zum barmherzigen Flüchtlingshelfer gewandelt, wird aus der Gemeinschaft verbannt, nicht ohne zum Schluss bewegende Worte an diese zu richten. Sein bisheriges Leben sei eine einzige Lüge gewesen, getragen von Hochmut. Nun habe er durch die Begegnung mit den Geflüchteten erkannt, was er wirklich zu tun habe, worin die wahre christliche Botschaft bestehe. Die Mehrheit der selbstgerechten, ja bigotten Dörfler indes will diese Worte nicht hören: Manolios/Jesus wird brutal erschlagen.

Für Martin? war es der Roman Der wiedergekreuzigte Christus aus der Feder des griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis, der ihn zum von ihm selbst verfassten Libretto inspirierte. Die ursprünglich für 1957 im Londoner Covent Garden terminierte Uraufführung platzte, weil die dort Verantwortlichen dieser Oper offensichtlich wenig Wertschätzung entgegen bringen wollten. Martin? investierte noch einmal viel Arbeit, heraus kam eine Version, die erst nach Martin?s Tod 1961 in Zürich das Licht der Welt erblickte. Gespielt wird heute aber fast ausschließlich die englischsprachige erste Version, so auch in Osnabrück. Und sie überzeugt in jeder Hinsicht. Musikalisch bietet sie ein geradezu überreiches Tableau an Farben und Formen, das GMD Andreas Hotz am Pult des Osnabrücker Symphonieorchesters auch intensiv auskostet. Oft bereitet Martin? Geschehnisse und Stimmungen musikalisch schon subtil vor, die dann erst kurz danach auf der Bühne sichtbar werden. Drastisch wirkt hier die Gewalt, sanft und zart dort das Poesievolle. Martin?s musikalische Sprache erweist sich als vielfältig und verschmilzt ganz unterschiedliche Stilistiken seiner Zeit. Sein Primat gilt der größtmöglichen Expressivität.

The Greek Passion ist vor allem auch eine Choroper: In vielen Szenen prägt das zahlenmäßig stark besetzte Ensemble aus Opernchor, Extrachor und Kinderchor das Bühnengeschehen (Einstudierung: Sierd Quarré/Anna Milukova) und punktet mit einer natürlich und lebendig angelegten Choreografie. Auch stimmlich glänzen die Sängerinnen und Sänger der Chöre - was uneingeschränkt auch für die Solo-Partien gilt. Da gibt es keinerlei Ausfälle! Die Hauptrollen gestalten James Edgar Knight als Manolios, Susann Vent-Wunderlich als Katerina, Aljoscha Lennert als Yannakos, Rhys Jenkins als Priester Grigoris mit hohem Grad der Identifikation.

Für das Theater Osnabrück war The Greek Passion gewiss eine große, aber prächtig gemeisterte Herausforderung - und nach Fremde Erde von Karol Rathaus zu Beginn der Spielzeit eine weitere Repertoire-Rarität. Es dürfen gern weitere folgen!