Dem Menschen ins Innerste geschaut
Was macht Krieg mit Menschen? Wie schmal der Grat zwischen Zivilisation und Verrohrung ist, war schon immer bekannt, denn Kriege gehören zur Geschichte der Menschheit.
Gelernt hat die Menschheit aus der Geschichte wenig. Anders ist die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine nicht erklärbar. Die Politik hat versagt, das Theater rückt das Thema aktuell und bewegend gerade deshalb in den Fokus.
„Sich waffnend gegen eine See von Plagen“, heißt das Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie, das an der Schaubühne mit Ovationen im Stehen nun Premiere feierte - den Hamlet-Monolog zitierend. Denn den beiden Machern gelingt es, massive Menschenrechtsverletzungen mit künstlerischer Originalität und Fingerspitzengefühl in berührender Tonalität aufzubereiten.
Die Szenerie hat Werkstattcharakter. Hier werden textliche Versatzstücke aus diversen Interviews und Texten von Pavlo Arie zusammengeschnitten und die Schauspieler Holger Bülow, Dmytro Oliinyk und Oleh Stefan präsentieren ihre eigenen Geschichten.
„Wann hab ich denn schon mal die Gelegenheit, einem Menschen die Kehle durchzuschneiden, so hab' ich gedacht…“, sagt ein Mann am Telefon. Scheußlicher kann Theater Krieg wohl kaum auf den Punkt bringen. Der Mann ist ein russischer Soldat, am anderen Ende der Leitung ist seine Frau, der er von der Ermordung eines jungen Ukrainers in den ersten Kriegstagen berichtet.
Im Hintergrund auf einer großen Leinwand werden Bilder, Videos und Zitate eingeblendet.
Die schauspielerische Leistung von Bülow, Oliinyk und Stefan fasziniert die Besucher*innen der Premiere, weil ihr Spiel durch die inhaltliche Nähe zu den Geschichten, die sie erzählen, noch mehr Authentizität vermittelt.
Stefan erzählt seinen Werdegang vom Sowjetbürger zum preisgekrönten ukrainischen Schauspieler. Okiink, 1990 auf der Krim geboren, repräsentiert die postsowjetische Generation und lässt Blicke auf eine ukrainische Identität zu.
Charmant und in sich ein wenig versponnen tritt Bülow auf. Der stolpert in den Probenprozess der Kollegen, kein gänzlich neuer, aber dennoch hier passender Regie-Kunstgriff. Der Künstler verspinnt sich textlich in immer höhere Schrauben, hadert mit der eigenen Unfähigkeit, zur Waffe greifen zu können, um die Angreifer abzuwehren.
Kunst kann Flucht sein. Kunst kann an der Schaubühne aber auch eine intensive Konfrontation mit aktuellem Zeitgeschehen sein.
Sehr sehenswert.