Szenische Askese
Keine Frage, die inflationäre Rezeptionsgeschichte des Trauerspiels legt nahe, es endlich einmal von Überfrachtungen zu befreien und in auf das Wesentliche reduzierter Gestalt auf die Bühne zu bringen. Ob aber dazu beiträgt, Nebenfiguren wie Rosenkranz und Güldenstern samt Fortinbras und vielen anderen zu streichen, steht bereits auf einem anderen Blatt. Doch wäre ohne solch radikalen Verzicht die Einschrumpfung des Paradestücks aller Spielpläne auf zwei pausenlose Stunden kaum möglich. Im Schauspiel Hannover ist daher strengster Purismus am Werk. Die ihr Gemüt zergrübelnde Titelfigur taucht in die finstere Szene nicht anders ein als die übrige Personage mit ihren dunklen Leidenschaften und sinistren Machenschaften. Regisseurin Lisa Nielebock lässt das Ensemble beinahe ausschließlich auf dem düsteren Fond des Vorbühnenpodiums agieren. Oliver Helf schottet - als sei der Eiserne Vorhang herabgelassen - den in seiner Fläche stark beschränkten Schauplatz nach hinten mittels einer hohen Wand in dräuendem Anthrazit gegen die Bühnentiefe ab. Daran entlang ziehen sich Klappbänke, denen die Spielerinnen und Spieler die zu ihren Auftritten nötigen Requisiten entnehmen. Offenbar haben sich Nielebock und Helf vorgenommen, die beschränkten Möglichkeiten der Shakespearebühne noch strenger zu limitieren. Doch trägt die obwaltende Askese nur bedingt zur Besinnung auf das Essentielle bei. Imaginäre Räume eröffnet sie nicht. Die Spielenden bleiben auf sich gestellt. Wenn Hamlet einen Handstand vollführt und der vergiftete Claudius unter konvulsivischen Zuckungen sein Leben aushaucht, deutet sich körperbetontes Schauspielertheater an. Letztlich aber sind die Spielenden über weite Strecken allein auf ihren Umgang mit Sprache verwiesen. Eben durch Shakespeares Idiom nimmt die Produktion Fahrt auf. Torben Kessler lotet seinen Hamlet sprecherisch bis in innerste Winkel und letzte Nuancen aus. Keine Frage, Kessler hat sich mit maßgeblichen Rollenvertretern befasst, um dennoch eigene Wege zu beschreiten. Vieles scheinbar sattsam Bekannte gewinnt Neuheit und Frische zurück. Gespielter oder tatsächlicher Wahnsinn sind keine wirklichen Alternativen, sondern irgendwann nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Bei Kessler bezieht die Figur gerade daraus ihr Charisma. Anja Herden mischt für ihren Polonius ein Gebräu aus dem Empfinden gesellschaftlichen Minderrangs einerseits und der mentalen Überheblichkeit des für höfische Intrigen unverzichtbaren Ränkeschmieds andererseits. Menschen sind ihm bloße Werkzeuge, die Tochter nicht ausgenommen. Bei Philippe Goos sucht Claudius sich in die Rolle des Monarchen hineinzufinden, verwechselt diese aber mit der eines bloßen Machtpolitikers. Sabine Orléans gibt eine raumgreifende Gertrud. Sebastian Nakajew lässt Horatio eher farblos daherkommen. Amelle Schwerk ist Ophelia.