Liebe in Zeiten des Imperialismus
In Deutschland ein höchst seltener Gast, gehört das 1883 an der Pariser Opéra Comique uraufgeführte Werk unerachtet seiner beiden Wunschkonzertnummern – „Blumenduett“ und „Glöckchenarie“ - selbst im angestammten frankophonen Raum nicht zum Kernrepertoire. Mag sein, weil die einen Koloratursopran mit eminent lyrischen Qualitäten fordernde Titelpartie unerhört schwierig zu besetzen ist. Die Handlung ist im britisch okkupierten Indien angesiedelt. Zwei Offiziere der Kolonialmacht dringen in Begleitung ihrer Damen in den heiligen Hain jenes Tempels ein, dessen Priester auf nichts als Vergeltung an den Besatzern sinnt. Seine Tochter Lakmé aber und einer der Offiziere werden ein Liebespaar. Die bei den Hindus nahezu im Ruf einer Heiligen Stehende entzieht den Briten den väterlichen Racheplänen. Ihr eigenes Leid stellt sie hintenan. Denn längst ist der Geliebte mit einer Frau aus seinen Kreisen verlobt und überdies zum Aufbruch mit seiner Einheit bereit. Lakmé gibt sich den Tod. Alles dies erinnert in wesentlichen Zügen an „Madama Butterfly“, nur dass Delibes und seine Librettisten Edmond Gondinet und Philippe Gille die Kombination von exotischen Reizen und Imperialismus zwei Jahrzehnte vor Puccini auf die Bühne brachten. Delibes‘ Musik für die Titelfigur schwelgt in erlesenem Stilempfinden und hinreißendem Sentiment. Beides strahlt auf den Geliebten aus, der aber andererseits an der gewissenlosen Oberflächlichkeit teilhat, mit der die Partitur die britischen Kolonialherren bedenkt. Indem Delibes die sakrale Aura der Hindureligion in seine Oper einbezieht, eröffnet sich ein nahezu unwiderstehlicher Klangkosmos.
Auf den ersten Blick scheint Regisseur Davide Garattini Raimondi allzu sehr auf die Effekte seines Bühnenbildners Paolo Vitale zu vertrauen. Der bedenkt die Szene überreich mit indischer Architektur, Ornamentik und hinduistischen Bildwerken. Oft gespalten und gegeneinander verschoben, spiegeln sie den fragmentierten Blick, mit der westliche Arroganz die unterjochte Kultur betrachtet. Für den Schlussakt sieht das Libretto ein von der Titelfigur für den Geliebten hergerichtetes Versteck im Urwald vor. Hingegen führen Raimondi und Vitale ins britische Offizierskasino. Dass Lakmé dem Briten in die für sie fremdartige Umgebung folgt, zeigt sie auf dem Weg in die Verwestlichung. Ein toxisches Unterfangen, bei dem sie auf der Strecke bleibt. Bei Raimondi treibt der Offizier gewiss kein schnödes Spiel mit der Geliebten, aber seine Herkunft und kulturelle Prägung binden ihn stärker als die Loyalität zur indischen Priestertochter vermag. Ihn packt darob Verzweiflung. Giada Masis Kostüme tragen, indem sie die indische Sphäre überdeutlich von jener der Besatzer abhebt, zu Schilderung von Verhältnissen bei, unter denen selbst der auf der Bühne omnipräsente elefantengestaltige Glücksgott Ganesha machtlos ist, während Mahatma Gandhi das Geschehen beobachtet und auf Wandel sinnt.
Musikalisch ist die Produktion eine Offenbarung. Denis Segond hält den Chor des Hauses zu feinster Transparenz und Nuancierung an, was entscheidend dazu beiträgt, Delibes‘ Opernindien als gediegen, nobel und mystisch zu beglaubigen. Frédéric Chaslin zelebriert mit dem Orchester der Königlich Wallonischen Oper ausgesprochen elegant und mit dramatischem Impetus versehen die Poesie und das Sentiment der Partitur. „Lakmé“ steht und fällt mit der Titelrolle. Jodie Devos ist die Idealbesetzung. Stupend und flexibel wagen sich ihre Koloraturen bis in Stratosphären, auf ihrer heiklen Bahn bewahren sie Substanz, Innigkeit und Wärme. Devos‘ in die letzten Winkel des Raumes dringende Pianissimi greifen ins Gemüt. Für Lakmés Geliebten, den britischen Offizier Gérald, verfügt Philippe Talbot über einen im französischen Repertoire stilsicher agierenden Tenor. Am Premierenabend nimmt Talbot an exponierter Stelle Zuflucht ins unangemessene Forte, aber das kann sich geben. Bei Lionel Lhote vereinbart Lakmés Vater Nilakantha baritonalen Wohllaut mit der Durchschlagskraft des zur Rache an den Besatzern bereiten Priesters. Pierre Doyen gibt auf sanglich gerader Linie Géralds Offizierskameraden Frédéric. Auch alle kleineren Partien sind hervorragend besetzt.