Worüber wir eigentlich sprechen sollten!
Wie wunderbar. Frohe Botschaft ereilt uns aus modernen Demokratien: Männer und Frauen sind gleich viel wert, gehen wertschätzend und offen miteinander um, auch beim Thema Sexualität herrscht eitel Sonnenschein.
Wir machen keinen Unterschied mehr zwischen „Playboys“ und „Schlampen“, Männer und Frauen, Schwule, Lesben und Binäre sprechen offen über Sex und Spaß zwischen den Laken, ihre Familienplanung und Verhütungsmethoden.
Da kommt einem die Aufarbeitung weiblicher Scham von Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, Das Ereignis, doch reichlich durchs Jahrhundert gefallen vor. Oder?
Das Thema Abtreibung steht im Fokus dieser dichten, sprachlich manchmal aber irgendwie läppisch erscheinenden Auseinandersetzung ums weibliche Schamgefühl, fehlgeleitetes Sperma und unkondomte Penisse.
Natürlich, Abtreibung ist bis heute ein sensibles und ernstes Thema, scheint von Stereotypisierungen, moralischen Ableitungen, rechtlichen Regelungen überfrachtet. Individualpsychologisch gesehen - das bestätigen Fallberichte von Frauen - geht keine Abtreibung, mag sie auch schonend mit den Mitteln gynäkologischer Kunst herbeigeführt worden sein, an ihnen vorbei.
Das Berliner Ensemble fährt gehörig auf. Mit einem Vorwort von Deutschlands Chef-Frauenversteherin Sarah Diehl, die schreibt: „In Polen gibt es Frauengruppen, die den Abbruch in freundlicher solidarischer Atmosphäre (…) selbst organisieren. Als ich zum ersten Mal davon hörte, war mein erster Gedanke: verrückt. Verrückt, dass wir Frauen so sehr in einem medizinischen und moralischem System gefangen sind, dass wir gar nicht darauf kommen, zu fordern, dass wir eine zutiefst private und intime Erfahrung wie einen Schwangerschaftsabbruch selbst gestalten können.“
Das sind schöne, aber auch irgendwie wohlfeile Worte, denn ein Schwangerschaftsabbruch birgt Risiken für die Frau. Eine ärztliche Supervision scheint angemessen.
Wobei wir schon wieder beim Schamgefühl sind, das Annie Ernaux thematisiert. Woher kommt dieses eigentlich, das Nina Bruns, Pauline Knof und Kathrin Wehlisch in intensiven, eindringlichen Worten und Bildern da auf die Bühne bringen? So sehr, dass eine Frau in Begleitung sogar den Saal verlassen muss, offenbar persönlich berührt von den drastischen Worten, wie dem bekannten Stricknadel-Bild, das oft im Zusammenhang mit Abtreibungen gebraucht wird. On Top wälzen sich die Frauen leidend in Erde auf der Bühne.
Über die persönlichen Implikationen, die in Ernaux' Texten mitschwingen, ist viel geschrieben und gesprochen worden, insofern fragt man sich unter Umständen, warum Ernaux einmal mehr die Frauen leiden lässt. Könnte auch eine selbst traumatisierte Autorin einmal über ihre schriftstellerische Rolle nachdenken?
Warum sehen wir nicht Vergewaltiger auf der Berliner Ensemble-Bühne, die Frauen ungewollte Kinder gemacht haben und über die Auswirkungen ihres Handeln nachdenken; warum sehen wir keine reflektierten Lover, die für geschützten Geschlechtsverkehr mit Kondom eintreten?
Ernaux zeigt einmal mehr leidende, traumatisierte Frauen; Frauen, die Opfer einer männlichen Dominanz sind, ohne die Männer dabei selbst zu thematisieren, in ihrer Verantwortung bei einer Abtreibung in die Pflicht zu nehmen.
Und sind Frauengruppen wirklich die Antwort auf alle Probleme in einer modernen Welt?
Ich weiß es nicht und empfehle die Inszenierung von Laura Linnenbaum allen, die Fan von Ernaux' manchmal etwas nostalgisch anmutender Behauptung von Frauen in einer Männerwelt sind.